Frankfurter Rundschau, 25.10.2000

Mit der Dunkelheit kehrt die Vergangenheit zurück

Trotz Beendigung der jahrelangen Kämpfe sehen Menschenrechtsvereine anhaltende Missstände im Kurdengebiet

Von Stefan Koch (Diyarbakir)

Enttäuscht über die jüngste politische Entwicklung im Südosten der Türkei zeigen sich die Menschenrechtsvereinigungen in der Kurden-Hochburg Diyarbakir. Auch nach dem Ende der Kämpfe zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem Militär hätten sich weder die rechtliche noch die wirtschaftliche Lage der Kurden wesentlich verbessert.

Im Schatten der alten Stadtmauern von Diyarbakir herrscht tagsüber wieder dichtes Gedränge. Fliegende Händler bieten Granatäpfel, Weintrauben oder Bananen an und lautstark hallen kurdische sowie türkische Gesänge aus alten Kassettenrekordern. Unzählige Kleinlaster, gelbe Taxis und Eselskarren verstopfen die engen Gassen.

Auf den ersten Blick herrscht Normalität. Doch mit Einbruch der Dunkelheit kehrt auch die Vergangenheit zurück. Dann stehen Polizisten an den Kreuzungen und Soldaten patrouillieren in gepanzerten Fahrzeugen mit aufgepflanztem Maschinengewehr durch die Straßen. In so manchem einst gut besuchtem Teehaus herrscht auch schon Stunden vor Mitternacht gähnende Leere und die Kellner stehen gelangweilt am Tresen.

Für den Rechtsanwalt Osman Baydemir vom türkischen Menschenrechtsverein IHD hat das einen einfachen Grund: "Der Frieden wurde nur von einer Seite erklärt". Vom Staat würden noch viele Repressionen ausgehen. Das Büro des Menschenrechtsvereins konnte zwar vor zehn Tagen wieder geöffnet werden, nachdem es über vier Jahre hinweg in Diyarbakir verboten war, aber dieses Zugeständnis heißt nicht viel.

Noch immer droht demjenigen eine Gefängnisstrafe, der oppositionelle Gedanken äußert, und noch immer werden die Kurden nicht als Minderheit anerkannt, die ihre eigene Sprache und Kultur pflegen wollen. Osman Baydemir stellt nüchtern fest: Zu ganz schlimmen Übergriffen sei es in jüngster Zeit aber nicht gekommen. Aus den Untersuchungsgefängnissen sei in den vergangenen Monaten niemand mehr spurlos verschwunden. Auch seien keine Dörfer in der Umgebung von Diyarbakir mehr abgebrannt worden.

Von einer entspannten Atmosphäre kann aber noch längst keine Rede sein. Darüber täuscht auch das bunte Markttreiben in den uralten Gassen nicht hinweg. Die Angst ist geblieben", sagt Ali Ürküt. Der Vorsitzende der prokurdischen Partei Hadep in Diyarbakir erinnert an die vielen Gefangenen, die noch in Untersuchungshaft sitzen. Ali Ürküt weiß, was das heißt. Der Partei-Funktionär war selbst aus politischen Gründen eingekerkert. Seine Arbeit haben die staatlichen Repressionen jedoch nicht beenden können - im Gegenteil: Wäre die Hadep bei der jüngsten Wahl nicht an der landesweiten Zehn-Prozent-Klausel gescheitert, säße Ali Ürküt heute wohl als Abgeordneter im Parlament in Ankara. Zumindest hier in Diyarbakir erhielt seine Partei im vergangenen Jahr eindeutig die Mehrheit. Jetzt muss er Vorlieb nehmen mit einer kleinen Wohnung im zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses im Stadtzentrum , das die Parteizentrale ist.

Bis auf den Flur hinaus drängeln sich die Menschen, die sich Hilfe versprechen von den kurdischen Kommunalpolitikern. Sie stellen immer wieder die gleichen Fragen: Wann können sie in ihre Dörfer zurück, aus denen sie von der Armee vertrieben worden sind? Die einfachen Bauern aus dem Südosten sind verunsichert, seit sie von dem jüngsten Vorhaben der türkischen Regierung gehört haben: Die Flüchtlinge sollen nicht in ihre angestammten Orte zurückkehren (die ohnehin oft dem Erdboden gleichgemacht worden sind), sondern in Kleinstädten angesiedelt werden. "Wenn dieses Projekt umgesetzt wird", meint Ürküt, "wäre das für unsere Leute eine Katastrophe". Die kurdischen Großfamilien lebten seit Jahrhunderten von ihrem Land und ihrem Vieh. In der Stadt müssten sie verarmen. Nach Meinung Ürküts verbirgt sich hinter diesem Ansiedlungskonzept eine klare Strategie: "In kleinen Städten lassen sich die Menschen besser kontrollieren als wenn sie verstreut über das Land leben und sich selbst versorgen" Etwas Gutes kann und will der Hadep-Funktionär in dem Regierungsprojekt nicht erkennen - die Spuren des 15-jährigen Krieges im Südosten der Türkei sitzen noch tief.

Zweckoptimismus strahlen dagegen die Unternehmer von Diyarbakir aus. Mehr als 1000 Firmenbesitzer aus der gesamten Krisenregion haben sich unter dem Dachverband Günsiad" zusammengeschlossen, um den jungen Frieden in ihrer Heimat zu nutzen: "Bei uns gibt es fast alles, von der Steinkohle bis zum Erdöl", meint der Verbandsvorsitzende Bedrettin Karaboga. Kritik übt er weniger an der Regierung in Ankara als vielmehr an der Europäischen Union. ",Warum kommen die Interessenten und Investoren nur aus Amerika? Warum lassen sich die Europäer nicht blicken?" Nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes gebe es für Unternehmer beste Voraussetzungen. "Wir wollen die Partner sein," sagt Karaboga, der selbst mehr als 600 Mitarbeiter in zwei Mehlmühlen und einer Schokoladenfabrik beschäftigt.

Im neuen Europa ganz groß rauszukommen - davon träumt auch Yücel Yubiz. Der 26-Jährige ist Leadgitarrist der Rockband Pegasus und spielt regelmäßig im Cesnt, einer Kellerbar im Stadtzentrum von Diyarbakir. Der Musiker stammt ebenso wie seine drei Bandkollegen aus Istanbul und studiert in dieser Stadt Physik, trotz militärischer Sonderzone und ständiger Polizeikontrollen. Für ihn lässt sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen: "Das Militär kann sich so wild gebärden wie es will, wenn wir abends so richtig loslegen, tanzen alle mit, Kurden und Türken".