Süddeutsche Zeitung, 24.10.2000

"Wir können sie nicht in die Wüste schicken"

Der israelische Botschafter Lewy glaubt immer noch an eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern

Der israelische Diplomat Mordechay Lewy kennt Deutschland seit der Schulzeit. Anfang der neunziger Jahre arbeitete er als Generalkonsul seines Landes in Berlin. Derzeit leitet er als Interims-Botschafter die israelische Vertretung in der deutschen Hauptstadt. Über die Gewalt im Nahen Osten und die Chancen auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses sprachen mit Lewy in München Stefan Kornelius und Peter Münch.

SZ: Israel hat soeben eine Pause im Friedensprozess verkündet. Gibt es einen Plan, wie man diesen Prozess wieder starten kann?

Lewy: Israel hält am Frieden nach wie vor fest. Aber man darf sich auf Grund der Unruhen doch eine Denkpause gönnen, und das machen wir jetzt. Wenn die Unruhen und Gewalttätigkeiten der palästinensischen Seite aufhören, dann steht weiteren Verhandlungen nichts im Wege.

SZ: Auch mit Jassir Arafat? Ist er noch jemand, dem Sie vertrauen würden?

Lewy: Er hat natürlich einen Vertrauensbruch begangen. Das ist die eine Sache. Andererseits können wir uns unsere Gegenüber nicht aussuchen. Daher würden wir jeden Palästinenser akzeptieren, der eben die Verhandlungen führt.

SZ: Müssten die Palästinenser außer einem Gewaltverzicht noch andere Vorleistungen erbringen?

Lewy: Nein.

SZ: Man kann die Verhandlungen also nahtlos fortsetzen?

Lewy: Nahtlos - das weiß ich natürlich nicht. Denn ich weiß nicht, was von den Sachen noch übrig geblieben ist, die auf Grund der Camp-David-II-Verhandlungen auf den Tisch gelegt worden sind. Das muss jetzt erst einmal überprüft werden.

SZ: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass eine Pause die Dinge in eine gefährliche Richtung treibt? In Israel könnte es zu einer Notstandsregierung aus Arbeitspartei und Likud kommen, in der dann auch der Hardliner Ariel Scharon sitzen würde. Könnte so eine Regierung den Friedensprozess überhaupt wieder beleben?

Lewy: Sie werden sich wundern. Außerdem glaube ich, dass die Überlegungen in Israel, die zu einem Notstandskabinett führen könnten, untrennbar mit der eskalierenden Gewalt der Palästinenser verbunden sind. Ohne die Gewaltanwendung und die Unruhen würde es dazu ja nicht kommen.

SZ: Was macht Israel so sicher, den Friedensprozess doch noch zu Ende zu führen?

Lewy: Wir wissen, dass wir die Palästinenser nicht in die Wüste schicken können, genauso wie sie uns nicht ins Meer werfen können. Das heißt: Auch wenn die Sachen jetzt unschön aussehen, letztendlich gibt es keine Alternative dazu, eine Kompromisslösung zu finden; und diese wird nur auf dem Verhandlungsweg zustande kommen. Die Frage ist nur, wie lange es dauern wird, bis man zu dieser Weisheit wieder zurückkommt.

SZ: Es gibt weltweit eine Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der Mittel, mit denen Israel auf die palästinensische Intifada antwortet. Gäbe es denn keine anderen Möglichkeiten?

Lewy: Die einzige wäre es, die Reibungsflächen zwischen Israelis und Palästinensern zu verkleinern, und ich glaube, in diese Richtung wird auch in Israel gedacht. Möglich wäre eine geplante Abkopplung, die sicher nicht auf einmal kommen wird, sondern graduell.

SZ: Eine Mauer?

Lewy: Nein, keine Mauer. Eine Abkopplung bedeutet, dass man den Alltag abkoppelt und so die Reibungsflächen vermindert, obwohl ich manchmal den Eindruck habe, dass die Palästinenser ja diese Konfrontation suchen. Und was die Verhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens betrifft: Jeder, der sich diesen Angriffen emotionsgeladener Massen ausgesetzt fühlt, fühlt sich angegriffen, und es ändert gar nichts, dass man militärstatistisch gesehen selbst sehr stark ist. Ich glaube, diese Bedrohungssituation, mit der sich Israel konfrontiert sieht, bestimmt auch seine Reaktion.

SZ: Eine Entkoppelung des Alltags würde zu wirtschaftlichen Rückschlägen für Palästinenser wie Israelis führen.

Lewy: In Israel ist das keine Überlegung. Aber wenn hier Reibungsflächen abgebaut werden sollen, dann nimmt man wirtschaftliche Rückschläge in Kauf. Denn keiner sagt uns, wie lange diese Unruhewellen dauern könnten, auch wenn ich persönlich glaube, dass sie so lange an Intensität verlieren werden, bis wieder chancenreiche Verhandlungen kommen werden. Dann werden die Palästinenser die Ausschreitungen wieder als Verhandlungsmasse benutzen, um diese Gespräche zu beeinflussen. Und dann können wir wahrscheinlich nochmal dasselbe Spiel erleben wie jetzt. Es ist durchaus möglich, dass wir hier ein Verhaltensmuster erkennen müssen, das zu Nichts führt. Bis vielleicht eines Tages die palästinensische Führung gewechselt wird.

SZ: Erwarten Sie denn nun die Ausrufung des Palästinenserstaates, nachdem die Intifada schon als Unabhängigkeitskrieg deklariert worden ist?

Lewy: Es wäre nicht undenkbar.

SZ: Wie wird Israel denn darauf reagieren?

Lewy: Es wird Wege finden, darauf zu reagieren. Ich glaube nicht, dass wir das gut heißen werden. Doch es ist viel zu früh, um darüber jetzt nachzudenken und in der Öffentlichkeit zu spekulieren.

SZ: Falls die Palästinenser tatsächlich ihren Staat proklamieren sollten, werden dann Amerikaner und Europäer auf israelischer Seite stehen?

Lewy: Soweit ich diese Situation heute schon einschätzen kann: ja. Aber was heißt denn schon: auf israelischer Seite stehen?

SZ: Werden Amerikaner und Europäische Union den palästinensischen Staat die Anerkennung verweigern?

Lewy: Die Amerikaner haben sich meines Wissens schon öffentlich so geäußert. Ob es allerdings in der Europäischen Union zu einer einheitlichen Haltung kommen wird, das weiß ich nicht.