Kölner Stadt-Anzeiger, 21.10.2000

Zensus in der Türkei

Ausgehverbot verärgert Urlaubsregion

Istanbul - Im westtürkischen Kusadasi war schon alles bereit für die Ankunft der Kreuzfahrtschiffe. Luxusdampfer mit rund 7000 ausländischen Touristen an Bord sollen an diesem Sonntag im Hafen der Ägäis-Stadt festmachen.

Bei solchen Gelegenheiten reiben sich die Ladenbesitzer und Gastronomen normalerweise die Hände, denn Schiffstouristen gelten als wohlhabend und spendabel. Doch aus dem Landgang wird nichts. Die Touristen dürfen sich nicht von ihren Schiffen entfernen und zum Einkaufen in die Stadt gehen, weil sie an der türkischen Volkszählung teilnehmen müssen und deshalb - wie die gesamte Bevölkerung in der Türkei - einer ganztägigen Ausgangssperre unterworfen sind.

Selbst wenn den Touristen nach der Teilnahme an der Volkszählung ein Stadtbummel erlaubt würde, wäre dieser wohl kaum unterhaltsam. Denn alle Läden bleiben an diesem Sonntag geschlossen.

Die Tatsache, dass ausländische Touristen zum ersten Mal bei einer türkischen Volkszählung berücksichtigt werden, hat einen heftigen Streit zwischen den Behörden und der Fremdenverkehrsbranche ausgelöst.

Der Tourismus ist schließlich eine der wichtigsten Devisenquellen des Landes. Die Region kann sich nach der Urlauber-Krise im vergangenen Jahr, als viele Ausländer die Türkei wegen Anschlagsdrohungen und der schweren Erdbeben mieden, keine neuen Rückschläge leisten. Dennoch werden die Touristen "festgesetzt".

Sinn angezweifelt

Am Beispiel der Kreuzfahrt-Touristen zeigt sich aus Sicht der Kritiker der Unsinn der Zensus-Verpflichtung für Urlauber ganz besonders krass: Die ausländischen Gäste machen mit ihren Schiffen nur für sehr kurze Zeit in der Türkei Station - welchen Wert kann ihre Befragung durch Zensus-Beamte für künftige Planungen der Regierung haben?

Insgesamt ist wohl rund eine halbe Million Türkei-Touristen von dem Ausgehverbot am Zensus-Tag betroffen. Gruppenreisende dürfen immerhin nach ihrer Erfassung zusammen mit einem Reiseleiter Ausflüge unternehmen. Für Einzelreisende gilt dagegen striktes Ausgehverbot. Auch abreisende und ankommende Urlauber sollen gezählt werden.

Durch den Krach um die Teilnahme der Touristen ist das Unternehmen Volkszählung 2000 in der Türkei so umstritten wie noch kein Zensus zuvor. Dabei sind sich alle einig, dass regelmäßige Befragungen zu Altersstruktur, Lebenssituation und inländischen Wanderungsbewegungen wegen der rasanten Veränderungen in der Türkei sinnvoll sind.

So machen die Ergebnisse der zurückliegenden Volkszählungen deutlich, wie sehr sich das Land gewandelt hat: Beim ersten Zensus der türkischen Republik im Jahr 1927 wurde eine Bevölkerungszahl von gerade einmal 13,5 Millionen Menschen ermittelt - bei der Zählung am Sonntag wird eine Zahl von mehr als 65 Millionen erwartet. (afp)