Neue Zürcher Zeitung, 21. Oktober 2000

Die Türkei als Profiteurin von Nahostkrisen

Keine Armenier-Resolution des US-Repräsentantenhauses

Das US-Repräsentantenhaus hat nach einer Intervention der Regierung die Abstimmung über eine Resolution, die dem Osmanischen Reich Genozid an den Armeniernvorwirft, nicht durchgeführt. Der Entscheid wurde in der Türkei mit grosser Genugtuung aufgenommen und als Beweis für die strategische Bedeutung des Landes gewertet.

it. Istanbul, 20. Oktober

Das amerikanische Repräsentantenhaus hat am Donnerstag die Verabschiedung einer politisch brisanten Resolution, welche die Verfolgung der Armenier in Anatolien während des Ersten Weltkriegs als Genozid bezeichnet, im letzten Moment auf unbestimmte Zeit vertagt. Diesem Entscheid vorausgegangen war eine deutliche Intervention der amerikanischen Regierung. Präsident Clinton hatte persönlich in einem Telefongespräch den Sprecher des Repräsentantenhauses davor gewarnt, dass die Annahme dieser Resolution angesichts der jüngsten Nahostkrise weit reichende und negative Konsequenzen für die USA hätte. Die USA müssten die von Saddam Hussein ausgehende Drohung eindämmen, den Frieden im Nahen Osten wahren, auf dem Balkan und in Zentralasien zu Stabilität beitragen und neue Energiequellen erschliessen, erklärte Clinton. Für die Verwirklichung dieser Ziele sei die Türkei, «ein seit Jahren geprüfter, strategischer Partner der USA», ausschlaggebend, erläuterte auch der amerikanische Generalstabschef Henry Shelton. Er machte zudem darauf aufmerksam, dass nach dem Attentat gegen die amerikanische Marine in Jemen im Falle einer Verabschiedung der Resolution das Leben amerikanischer Bürger auch in der Türkei in Gefahr wäre.

Offensichtliche Genugtuung


Die Türkei wurde vom Entscheid in Washington regelrecht überrascht. Die Amerikaner hättenden Aufruf der Türkei und die von Ankara vorgelegten Dokumente offenbar genau gelesen unddie türkisch-amerikanische Allianz vor einer grossen Gefahr gerettet, erklärte der türkische Aussenminister Cem mit offensichtlicher Genugtuung. Seit Beginn der Debatte im Repräsentantenhaus über die Resolution hat die Türkei Washington mehrmals vor weit reichenden Vergeltungsmassnahmen gewarnt. Ankara dachte unter anderemdaran, den Zugang des kleinen Nachbarn Armenien zum Westen abzuschneiden und das Benutzungsrecht für amerikanische und britische Kampfflugzeuge auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik einzuschränken. Von Incirlik aus starten amerikanische und britische Kampfflugzeuge zu ihren Kontrollflügen über dem Nordirak. In den letzten zehn Tagen wurde eine erschwerte Visumspflicht für Armenier eingeführt. Der Verkehr der armenischen Chartergesellschaft GoldenAir, den Ankara in den letzten Jahren stillschweigend geduldet hatte, musste eingestellt werden.Damit wurde den rund 30 000 armenischen Gastarbeitern in der Türkei die direkte Verbindung inihre Heimat abgeschnitten. Ankara hat zudem begonnen, Flugzeuge mit Hilfsgütern nach Bagdad zu schicken.

Ein tabuisiertes Kapitel der Geschichte

Die Auslöschung des armenisches Volkes in Anatolien bleibt in der Türkei eine dunkles und stark tabuisiertes Kapitel. Zu dessen Verarbeitung hat die jüngste Episode kaum beigetragen, ganz im Gegenteil. Nationalistische Kreise in der Regierung hatten in einer Reaktion auf die amerikanische Resolution in der ehemals armenisch besiedelten Stadt Erzurum ein «Untersuchungszentrum» eröffnet, das die groteske Behauptung beweisen soll, wonach die Armenier einen Genozidan den Türken verübt hätten. Die Initianten fühlen sich nach dem Entscheid des Repräsentantenhauses in ihrer Annahme gestärkt, dass die Türkei sich wegen ihrer geopolitischen Bedeutung immer durchsetzten könne, sei es in Fragen der Menschenrechte, der kurdischen Minderheit oder eben des «Genozids an den Armeniern».