Stuttgarter Zeitung vom 21.10.2000

Verheugen: Türkei ist nicht reif für Europa

BRÜSSEL/FRANKFURT (AFP). Die Türkei ist nach Ansicht von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen vorerst nicht reif für Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. "Tatsache ist, dass die politischen Kriterien dafür derzeit nicht erfüllt sind'', sagte Verheugen gestern nach einem Treffen mit dem türkischen Vizeministerpräsidenten Mesut Yilmaz in Brüssel. Das von Yilmaz am Vorabend ins Spiel gebrachte Datum 2001 für den Beginn der Gespräche sei "nicht realistisch''. Yilmaz reagierte zurückhaltend. "Wir sind nicht in Eile'', sagte er. Es komme vielmehr darauf an, dass der Prozess der Annäherung nicht erlahme.

Yilmaz mahnte aber zugleich, den derzeitigen Schwung nicht zu verlieren. Offen forderte er mehr finanzielle Unterstützung von der EU für sein Land. Es gebe ein "Ungleichgewicht'' zwischen der Unterstützung für die Türkei und den Erwartungen an sie. Die Europäische Union zahlt momentan rund 130 Millionen Euro (etwa 254 Millionen Mark) jährlich an die Türkei.

Verheugen betonte, die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei sei eine der wichtigsten Forderungen der EU. Insgesamt sei die Lage der Demokratie, der Menschen- und der kulturellen Rechte in der Türkei "unbefriedigend''. Allerdings gebe es Vorbereitungen, um die Lage zu bessern. Auch Yilmaz räumte ein, dass sein Land die Kriterien für einen EU-Beitritt noch nicht erfülle. Er koordiniert im türkischen Kabinett die Vorbereitungen Ankaras auf die Mitgliedschaft. Die EU hatte die Türkei nach jahrelangem Streit im vergangenen Dezember offiziell als Kandidaten für einen Beitritt anerkannt.

Laut der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung'' (FAZ) erwartet Verheugen nicht, dass die Verhandlungen in den kommenden Jahren aufgenommen werden. Einen solchen Schritt werde er erst dann vorschlagen, "wenn ich sicher bin, dass wir es mit einer anderen Türkei zu tun haben'', sagte Verheugen gegenüber der Zeitung. Ob dies noch während seiner Amtszeit, die bis 2005 läuft, geschehe, sei fraglich.

Ankara und die EU wollen eigentlich in gut zwei Wochen eine so genannte Beitrittspartnerschaft vereinbaren. Doch selbst dieses Programm zur Vorbereitung auf die Mitgliedschaft sei noch nicht abgeschlossen, sagte Verheugen. In dem Programm werden die Ziele festgelegt, für welche die Türkei die EU-Gelder ausgeben muss. Yilmaz hatte am Donnerstagabend vor Journalisten betont, das Programm müsse für die Türkei annehmbar sein. "Wenn nicht, gibt es eine Katastrophe.'' Heikelster Punkt ist die Behandlung der Zypernfrage. Griechenland dringt darauf, die Lösung des Konflikts zu einer Bedingung für weitere Beitrittsfortschritte zu machen. Dagegen wehrt sich Ankara. Der Beitrittspartnerschaft müssen sowohl die EU-Staaten als auch das EU-Parlament zustimmen.