Süddeutsche Zeitung, 20.10.2000

Otto Schily warnt davor, die Zuwanderungsdebatte zu emotionalisieren

"Die Materie ist leicht entflammbar"

Der Bundesinnenminister begründet den beabsichtigten Verbotsantrag gegen die NPD mit dem hohen Gewaltpotenzial der Partei

Nach dem Hitler-Reich waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes einig: Die Demokratie muss künftig wehrhaft sein, sich gegen ihre Feinde verteidigen können. Schärfster Ausdruck dieser Haltung ist der Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes: Eine verfassungsfeindliche politische Partei kann vom Bundesverfassungsgericht verboten werden.

Im SZ-Interview begründet Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), wie er den Verbotsantrag gegen die NPD begründen will.

SZ: Herr Minister, ist die NPD eine kriminelle Vereinigung?

Schily: Dann wäre sie ein Fall für den Generalbundesanwalt.

SZ: Sie wollen gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag stellen. Wegen gewalttätigen Verhaltens ihrer Anhänger oder wegen der verfassungsfeindlichen Ziele der Partei?

Schily: Wegen beidem. Die verfassungsfeindlichen Zielsetzungen sind sehr deutlich: Der NPD geht es um Systemüberwindung, sie will die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen, und es besteht eine Wesensverwandtschaft zwischen ihr und der NSDAP. Das ist das eine. Der andere Sachverhalt ist das aggressiv-kämpferische Verhalten der NPD.

SZ: Hat die NPD Gewalttaten gegen Ausländer in Auftrag gegeben und leistet sie Beihilfe im strafrechtlichen Sinne?

Schily: Dies in einzelnen Fällen nachzuweisen, ist schwierig. Im Endergebnis sehe ich es so: Hier ist eine Partei, die von ihrer propagandistischen Orientierung, von ihren gesamten Verhaltensmustern, im Auftreten in der Öffentlichkeit und von ihrer konzeptionellen Ausrichtung her Gewalttäter stützt. Das Material, das wir zusammengetragen haben, zeigt: Die NPD bietet der Gewalt psychischen und physischen Rückhalt.

SZ: Anfangs, als der bayerische Innenminister Günther Beckstein den Verbotsantrag forderte, waren Sie zögernd. Woher kommt Ihr Meinungswandel?

Schily: Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass ein Parteiverbot die Ultima Ratio, das letzte Mittel ist. Deswegen war ich ursprünglich skeptisch. Als wir aber in einer Arbeitsgruppe von Bund und Ländern das ganze Material zusammengetragen hatten, war klar, dass der Einsatz dieses Mittels geboten ist.

SZ: Das heißt, der Verfassungsminister selber ist von den zusammengetragenen Erkenntnissen überrascht worden.

Schily: Überrascht nicht. Aber das Gewaltpotenzial, das erkennbar wurde, war noch höher als befürchtet.

SZ: Ein Teil der CDU-regierten Länder reagiert zurückhaltend. Wenn die nicht mitmachen - werden Sie den Verbotsantrag verschieben?

Schily: Allen Landesregierungen liegt das gesamte Material seit Ende September vor. Wenn einzelne Regierungen mehr Zeit brauchen für ihre Meinungsbildung, habe ich dagegen nichts einzuwenden.

SZ: Die Bundesregierung will, dass der Verbotsantrag nicht nur von ihr, sondern auch von den beiden anderen Verfassungsorganen, also dem Bundesrat und dem Bundestag, gestellt wird. Was tun Sie, wenn diese beiden nicht oder noch nicht mitmachen?

Schily: Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus sollten alle demokratischen Parteien ihre Verantwortung kennen.

SZ: Auf der Innenministerkonferenz am heutigen Freitag wollen die CDU-Länder noch nicht über den Verbotsantrag entscheiden. Ist das für Sie eine Niederlage? Und was steckt hinter dem Zögern der Union?

Schily: Eventuell müssen die Innenminister mehrmals tagen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn einige Länder noch um Bedenkzeit bitten. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass der bayerische Innenminister Beckstein als erster ein Verbot der NPD gefordert hat. Er hat dafür gute Gründe. Das berechtigt mich in der Erwartung, dass CDU und CSU und die von ihnen getragenen Landesregierungen sich bald einigen werden.

SZ: Werden Sie den Verbotsantrag notfalls alleine stellen?

Schily: Niemand darf seiner Verantwortung ausweichen.

SZ: Eine streitbare Demokratie muss doch mit Dummheiten und Idiotien anders umgehen können als mit Verboten! Demokraten müssen doch stark genug sein, dagegen zu streiten.

Schily: In der Fragestellung scheint mir der Irrtum enthalten zu sein: entweder das eine oder das andere. Diese Auffassung teile ich nicht, sondern ich sage: Selbstverständlich brauchen wir die geistig-politische Auseinandersetzung mit den Rechtsextremen, ganz egal ob wir ein Parteiverbotsverfahren einleiten oder nicht. Gehen wir doch einen Schritt zurück: Ich habe die Vereinigung "Blood and Honour" verboten. Niemand hat da irgendwelche kritischen Einwände erhoben und behauptet, wir sollten uns auf eine geistig-politische Auseinandersetzung beschränken. Wir müssen uns schon vergegenwärtigen, dass das, was Rechtsextremisten denken und sagen, die Vorstufe dessen ist, was sie später in Handlungen umsetzen. Die Gedanken von heute sind die Taten von morgen. Die NPD ist antisemitisch, rassistisch, fremdenfeindlich, gewaltfördernd. Wir müssen daraus die Konsequenzen ziehen. Wenn heute eine Partei unter dem Namen NSDAP wieder auftreten würde, ein paar Dinge aus dem alten Programm herausnimmt - dann würden Sie sich doch auch nicht darauf zurückziehen und sagen: Lasst die ruhig agieren, wir setzen uns geistig-politisch mit denen auseinander.

SZ: Die Meinungsfreiheit muss eine geduldige Freiheit sein - sie muss auch unerträgliche Dummheit ertragen. Deshalb ist sogar zu fragen, ob die Bestrafung der Auschwitzlüge wirklich sein darf.

Schily: Gut, darüber kann man diskutieren. Ich habe übrigens selber einmal in meiner Rede im Bundestag in Frage gestellt, ob man bei einer Geschichtsfälschung mit Strafrecht sehr viel bewirken kann. Das ist aber eine Frage, die auf einem anderen Blatt steht. Hier geht es um eine Partei, die Systemüberwindung will, die ein Potenzial bildet, was sich entsprechend auswirkt auf gesellschaftliches Verhalten. Die NPD nimmt die Privilegien in Anspruch, wie sie eine Partei nun einmal hat bis hin zur Parteienfinanzierung. Der Staat muss nicht der Meinungsfreiheit wegen zusehen, dass Kräften ein politischer Raum zugebilligt wird, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefährlich werden. Da gilt der Satz von Carlo Schmid: Keine Toleranz gegenüber Intoleranz und Gewalt.

SZ: Die NPD ist nicht neu, schon in den sechziger Jahren hatte sie parlamentarischen Erfolg. Ist sie seitdem gefährlicher geworden - oder hat der Staat geschlafen, hätte er also die NPD früher verbieten müssen?

Schily: Die NPD hat ihre Aktivitäten auf die Straße verlagert, das aggressiv-kämpferische Verhalten hat zugenommen, das Gewaltmoment ist stärker hervorgetreten.

SZ: Sind Sie sicher, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot aussprechen wird?

Schily: So etwas zu sagen wäre eine Zumutung gegenüber dem höchsten Gericht. Ich gehe davon aus, dass der Antrag erfolgreich sein wird. Falsch finde ich den Einwand von Wolfgang Schäuble, der behauptet, wenn jetzt mehrere Verfassungsinstitutionen von ihrem originären Antragsrecht Gebrauch machen, dann wäre das ein unzulässiger Druck auf das Verfassungsgericht. Ich bin optimistisch, dass die Bundesregierung, der Bundesrat und letztendlich der Bundestag von ihrem Antragsrecht Gebrauch machen. Am schwierigsten ist es natürlich für den Bundestag, das kann ich verstehen. Die Abgeordneten wollen zunächst einmal das Material sehen. Das würde ich als Bundestagsabgeordneter auch nicht anders handhaben. Denn die Landesregierungen und die Bundesregierung haben den Zugang zu dem Material. Ich habe dem Innenausschuss zugesagt, es zum frühestmöglichen Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen.

SZ: Könnte ein Verbotsantrag gegen die NPD nicht auch ein Persilschein für andere rechtsextreme Parteien sein?

Schily: Selbstverständlich muss auch in aller Unvoreingenommenheit geprüft werden, ob eventuell bei anderen Parteien die Notwendigkeit besteht, zu ähnlichen Maßnahmen zu kommen. Aber es gibt bei den Rechtsextremisten verschiedene Schattierungen. Die NPD ist sicherlich am aggressivsten. Deshalb gehen wir das jetzt erst mal an, und was dann mit den anderen Parteien geschieht, werden wir sehen.

SZ: Die Verbotsforderung ging von der CSU aus. Will die eventuell eine Konkurrenz am rechten Rand loswerden?

Schily: Ich unterstelle niemandem taktische Überlegungen. Herr Beckstein und ich sind uns darin einig, dass sich die wehrhafte Demokratie keine Schwäche gegen den Rechtsextremismus leisten darf.

SZ: Wenn Sie sich nicht auf den Verbotsantrag fixieren. Was wären die anderen Mittel der Auseinandersetzung?

Schily: Wir haben, zum Beispiel, ein Bündnis für Demokratie und Toleranz gegründet, dessen Wirkung man nicht unterschätzen soll.

SZ: Viele Gruppen haben dessen Konzeptionslosigkeit beklagt.

Schily: Die Anfangsschwierigkeiten sind überwunden. Das Bündnis ist Impulsgeber für viele, auch eigenständige Initiativen - die zeigen wollen und zeigen können: Deutschland ist ein ausländerfreundliches, weltoffenes Land, das auch stolz sein kann auf seine bisherigen Integrationsleistungen. Damit will ich die fremdenfeindlichen Exzesse nicht bagatellisieren. Es geht mir aber darum, dass sich die Gesellschaft zu immunisieren versucht. Und hierher gehört eine gute Integrationspolitik. Sie ist ein Mittel, um die Gesellschaft gegen rechtsradikale Irrungen zu wappnen.

SZ: Integration, sagt der CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz, sei es, wenn sich Ausländer der deutschen "Leitkultur" beugen.

Schily: Der Begriff Leitkultur ist sehr missverständlich. Wenn er damit nur gemeint hätte, dass ein Zuwanderer die hiesige Verfassung und Rechtsordnung anerkennen muss, dann wäre das freilich eine Selbstverständlichkeit. Ich meine: Integration ist eine beiderseitige Leistung - sowohl von der Aufnahmegesellschaft als auch von denen, die zu uns kommen. Wir sollten im übrigen glücklich sein, dass Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu uns kommen und etwas einbringen in die Gesellschaft. Davon haben wir in Mitteleuropa immer profitiert.

SZ: Integrieren in dieser neuen Gesellschaft muss sich auch die Politik. Gibt es nicht gerade da enorme Defizite?

Schily: Realitätsverweigerung ist Integrationsverweigerung. Die alte Bundesregierung hat sich der Realität über lange Zeit zu entziehen versucht, weil sie nicht anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, ob man es nun will oder nicht. Wir haben das in den Koalitionsvertrag bewusst und klar hineingeschrieben. Und wir haben das Staatsbürgerschaftsrecht grundlegend geändert - auf diese Reform bin ich stolz.

SZ: Sie haben vor einiger Zeit zu den Themen Asyl und Einwanderung gesagt, es dürfe kein Tabu geben. Ähnliches sagt jetzt Friedrich Merz. Er will daraus das nächste Wahlkampfthema machen. Ist das also ganz in Ihrem Sinn?

Schily: Wir werden auch im Wahlkampf über bestimmte Themen reden. Die Frage ist aber, wie man eine solche Debatte führt - da ist Zurückhaltung zum Beispiel in den Formulierungen geboten. Kampagnen nach Art des hessischen Wahlkampfes über die Doppelstaatsbürgerschaft führen in der Tat zu einer Emotionalisierung und einer Wirkung in der Gesellschaft, die höchst bedenklich ist. Man darf keine Feuerchen anzünden, die Materie ist leicht entflammbar. Das wird auch von den Vernünftigen in der CDU nicht gewollt. Wir sollten die Fragen der Einwanderung sachlich und vernünftig diskutieren, und zwar jetzt, nicht erst im Wahlkampf. Das habe ich der CDU/CSU auch angeboten. Wir müssen über alles miteinander reden können.

SZ: Auch über eine nochmalige Änderung des Asylgrundrechts?

Schily: Auch darüber. Wenn die Gesellschaft der Überzeugung ist, dass die besseren Argumente für die Beibehaltung in der jetzigen Form sprechen, werden sich die besseren Argumente in der Auseinandersetzung durchsetzen. Aber ich will zunächst einmal abwarten, was die Zuwanderungskommission vorbringen wird.

SZ: Wollen Sie denn nun ein Einwanderungsgesetz oder nicht?

Schily: Wir brauchen ein flexibles, anpassungsfähiges, transparentes und an den praktischen Erfordernissen orientiertes System. Das Ausländergesetz und seine Begleitnormen sind undurchschaubar, zum Teil sehr bürokratisch - dieses Recht erfüllt diese Anforderungen nicht.

SZ: Dann lassen Sie doch ein neues Ausländergesetz schreiben.

Schily: Das könnte ja anstelle eines Zuwanderungsgesetzes herauskommen.

SZ: Friedrich Merz meint, bei einer Zuwanderung von 200 000 Menschen pro Jahr liege die Höchstgrenze.

Schily: Das kann man doch gar nicht allgemein festlegen. Es kann sein, dass nur 100 000 richtig sind, in einem Jahr sind es vielleicht mal 300 000. Wichtig ist Flexibilität.

SZ: Sie haben davon gesprochen, dass die Politiker bei diesen Themen zurückhaltend formulieren müssten. Höre ich da auch Selbstkritik an eigenen Formulierungen?

Schily: Welche meinen Sie denn?

SZ: Zum Beispiel die, dass die Grenze der Belastbarkeit überschritten sei.

Schily: Diese Grenze müssen wir tatsächlich beachten. Aber es wurde ja immer behauptet, ich hätte vom vollen Boot gesprochen. Das habe ich nie gesagt. Wir müssen selbstverständlich den Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten Schutz und Hilfe geben. Wir müssen aber überlegen, ob die Verfahren, die wir dafür derzeit zur Verfügung stellen, die richtigen sind. Im Übrigen muss die Frage, in welcher Größenordnung wir unter allgemeinen Gesichtspunkten Zuwanderung zulassen, stets mit der Frage der Integrationsfähigkeit verbunden werden. Wird die Integrationsfähigkeit nicht beachtet, kann in der Tat die Grenze der Belastbarkeit überschritten werden.

Interview: Heribert Prantl

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