junge Welt, 20.10.2000

Protektorat Kosovo rechtsfreier Raum

OSZE wirft NATO-Truppen Menschenrechtsverletzungen vor

Die NATO, die sich gerne als Hüter der westlichen Wertegemeinschaft präsentiert, die die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft über alles stellt und dafür auch fremde Länder bombardiert, mußte diese Woche erneut eine schwere Blamage einstecken. In einem am Mittwoch vorgestellten Untersuchungsbericht beklagt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), daß das Rechtssystem im NATO-Protektorat Kosovo weit hinter dem internationalen Standard zurück bleibt. Serben werden meist vorverurteilt und Verdächtige illegal festgehalten. »Unter bestimmten Umständen halten sich die Behörden im Kosovo nicht an geltendes Recht, die internationalen Menschenrechte mit eingeschlossen«, heißt es in der Zusammenfassung des 89 Seiten umfassenden OSZE- Reportes mit dem Titel: »Kosovo: Eine Überprüfung des Kriminaljustizsystems«.

Die OSZE, die die Ereignisse im Kosovo vom 1. Februar bis zum 31. Juli dieses Jahres untersucht, kommt zum Schluß, daß sich »das anhaltende Klima ethnischer Konflikte auf die Unparteilichkeit der Gerichte aus- wirkt« und unterstreicht, daß sie im Kosovo »auf eindeutige und überzeugende Beweise für die Voreingenommenheit der Gerichte gestoßen ist, besonders den Kosovo-Serben gegenüber«. Auch die NATO- Truppe wird scharf gerügt, weil »unter Verletzung der internationalen Menschenrechte Personen gefangen gehalten werden«. Deshalb empfiehlt die OSZE mit Nachdruck, daß »KFOR und UNMIK dringend Maßnahmen ergreifen, damit in Zukunft keine Personen mehr in illegaler Gefangenschaft sitzen«. Bereits Mitte März hatte Amnesty International in einem Bericht die NATO und die Vereinten Nationen beschuldigt, im Kosovo gegen geltende Menschenrechtsstandards zu verstoßen.

Ein typisches Beispiel für die ethnische Voreingenommenheit der Gerichte im Kosovo nannte AFP am 26. Juli 2000 aus der Kosovo-Hauptstadt Pristina. »Dreifacher albanischer Mörder ohne Anklageerhebung ntlassen« titelte die Nachrichtenagentur damals. Der Albaner hatte einen der blutigsten Terroranschläge auf serbische Zivilisten nach dem Krieg durchgeführt. Afrim Zeqiri war ursprünglich von der UNMIK-Polizei festgenommen worden, nachdem er am 28. Mai in Cernica (Kosovo) vor Zeugen drei Serben, darunter ein vier Jahre altes Kind, mit einem Sturmgewehr erschossen hatte. Der zuständige albanische Untersuchungsrichter ließ den Verhafteten jedoch wieder frei.

Ganz anders verhalten sich die kosovo-albanischen Richter, wenn es sich um Serben handelt. Dabei wurden sie bisher auch von US-amerikanischer Seite unterstützt, wie das Beispiel der serbischen Familie Momcilovic zeigt, deren männlichen Mitgliedern ein zum Himmel schreiendes Unrecht wiederfahren ist. Sie waren angeklagt, zwei Albaner erschossen zu haben, die bewaffnet ihr Haus und ihre Werkstadt überfallen hatten. Die Szene wurde von einer amerikanischen Überwachungskamera aufgenommen. Zwischen US-Soldaten und albanischen Terroristen entwickelte sich ein Feuergefecht, bei dem die beiden Kosovo- Albaner erschossen wurden. Verhaftet und angeklagt wurden jedoch Vater Momcilovic und seine beiden Söhne.

Über ein Jahr wurden die drei von der amerikanischen KFOR-Truppe im Camp Bondsteel im Gefängnis festgehalten. Der zuständige albanische Richter wollte sie wegen Mordes verurteilen. Erst als ein französischer Strafrichter den Fall übernahm, wurde er schnell aufgeklärt. Es stellte sich heraus, daß die am Vorfall beteiligten US-Soldaten detaillierte Berichte für ihre vorgesetzten Offiziere geschrieben hatten. Aus diesen ging ohne Zweifel hervor, daß die UCK- Terroristen von den US-Soldaten erschossen worden waren. Der französische Richter ordnete daraufhin die sofortige Freilassung der drei Momcilovics an.

Als wichtige Verbesserung der rechtlichen Situation im Kosovo hebt der jüngste OSZE-Bericht den verstärkten Einsatz von internationalen Richtern und Anklägern im Kosovo hervor. Da ihre Zahl jedoch weiterhin gering ist, bleibt das NATO-Protektorat weiterhin ein weitgehend rechtsfreier Raum.

Rainer Rupp