Frankfurter Rundschau, 19.10.2000

Herausforderer Merz

Den Zündlern in der Union ist die Wirkung nur zu nehmen, wenn ihnen die Themen Asyl und Zuwanderung aus der Hand genommen werden

Von Wolfgang Storz

Wie könnte das Problem Friedrich Merz gelöst werden? Wem daran liegt, Toleranz zu fördern und der Gewalt, die sich gegen alles richtet, was nicht deutsch ist, die Stirn zu bieten, dem stellt sich diese Frage. Es mag vor allem für Merz' politische Konkurrenten verführerisch sein, sich zurückzulehnen und süffisant dem Streit in der Union zu lauschen: Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende hat - bei tatkräftiger Unterstützung der CSU - öffentlich darüber nachgedacht, wie die Union das Thema Zuwanderung und Asyl für den nächsten Bundestagswahlkampf zurechtschnitzen könnte. Das fiel deshalb besonders auf, weil er mit anderen zusammen Worte wählte, die einen gerade in diesen Wochen und Monaten unangenehm berühren müssen: Von der Bedeutung der deutschen "Leitkultur" war die Rede und davon, wie Ausländer am besten in sie eingepasst werden können. Weil er mit den Streichhölzern in der Hand jedoch auch im eigenen Haus ein Feuerchen legte, begnügen sich viele damit, das Verhalten zu rügen, es ansonsten jedoch als interne Debatte der Union um die Hegemonie im konservativen Lager zu interpretieren. Noch ein Thema, das die Union durcheinander bringt, mag sich der Kanzler und SPD-Parteivorsitzende sagen, dem der Pragmatismus schon zur Ideologie geworden ist.

Damit ist es jedoch nicht getan. Dazu ist die Atmosphäre in dieser Gesellschaft zu prekär. Die Auseinandersetzungen in den letzten Wochen um Zuwanderung, Ausländerfeindlichkeit, rechte Gewalt und Asyl zeigen, dass die Zivilgesellschaft nicht per Knopfdruck für das Bessere zu mobilisieren ist. Nicht nur der Kanzler hat in diesem Sinne an die Öffentlichkeit appelliert. Das Echo war, gelinde gesagt, bescheiden.

Das kann auch gar nicht anders sein. Ausländer nehmen Arbeitsplätze weg und zu viele sind es sowieso: Diese und andere Stereotype sitzen zu fest in zu vielen Köpfen. So spricht viel für die Analyse, dass Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz bis hin zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber den alltäglichen Übergriffen keineswegs ein Problem des Randes und am Rande, sondern eines der Mitte dieser Gesellschaft ist. Wenn dies so ist, dann mag es unabdingbar sein, dass der Staat stark auftritt, die Gewalttäter verfolgt und beispielsweise danach trachtet, die NPD zu verbieten. Das reicht jedoch nicht.

Es ist genauso wichtig, dass die demokratische Gesellschaft sich als stark erweist. Konkret: Die jüngste Intervention von Friedrich Merz und seinen Freunden mag, was die eigentlichen Beweggründe anbetrifft, zu Recht als Ausfluss eines innerparteilichen Ränkespiels interpretiert, auch als Überforderung des Wortführers angesehen werden. Die rotgrüne Regierung, andere Parteien, die interessierte Öffentlichkeit sollten jedoch in ihr etwas anderes sehen: eine Provokation. Das Thema sollte deshalb nicht - aus ebenfalls parteitaktischen Überlegungen - weggeschoben und beispielsweise mit Blick auf die Arbeit der jüngst eingesetzten Kommission vertagt werden.

Asyl, Aussiedler, Integration, Zuwanderung, wer diese Stichworte aufgreift, um politische Debatten darüber zu beginnen, ist im Recht, geht es doch um bedeutende, weitgehend noch ungelöste Fragen. Merz und andere setzen sich ins Unrecht, weil offenkundig ist, dass sie nur an (Wahl-)Stimmen und nicht an Lösungen interessiert sind. Das zeigt ihre Wortwahl. Das zeigt die Androhung eines Ausländer-Wahlkampfes. Das zeigt ihre Strategie, aus den sorgfältig zu trennenden Themen Asyl, Integration und Zuwanderung wider besseres Wissen die alte brisante politische Botschaft herauszupressen: Das Boot ist voll, und uns Deutschen droht Gefahr.

Den Zündlern ist die Wirkung nur zu nehmen, wenn ihnen diese Themen aus der Hand genommen werden. Das heißt zunächst, die Arbeit der Differenzierung zu leisten: Zuwanderung ist ein Mittel, das der deutschen Wirtschaft (Stichwort: Facharbeitermangel) und Gesellschaft (Stichwort: Vergreisung) helfen soll. Das ist mit anderen Worten Eigennutz pur; der Wert Toleranz gegenüber Nichtdeutschen ist hier übrigens leicht einzulösen, droht sogar zu einem Faktor wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit degradiert zu werden. Die Asylpolitik eines Landes gibt Auskunft darüber, wie sehr es sich anzustrengen bereit ist, politisch Verfolgten zu helfen. Nur daran lässt sich verlässlich ablesen, wie es um Hilfsbereitschaft und Toleranz in einer Gesellschaft tatsächlich bestellt ist. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, das ernst zu nehmen, was Volker Rühe jüngst andeutete: Die Zahl der Zuwanderer dürfe nicht gegen die der Asylbewerber und Flüchtlinge aufgerechnet werden; bemerkenswerte Festlegung eines führenden Christdemokraten.

Grüne, Sozialdemokraten, Tarifparteien und Kirchen sollten sich heute diesen Fragen stellen und jetzt an Lösungen arbeiten. Nicht erst in Monaten. Spätestens um die Jahreswende wird die EU-Osterweiterung zu einem großen gesellschaftlichen Thema werden. Dann drängt das Problem noch stärker: Wer darf warum und wie lange in Deutschland arbeiten und leben? Nach welchen Kriterien wird entschieden?

Die Regierung kann viel zu einem toleranteren Klima in dieser Gesellschaft beitragen, wenn sie in diesen Fragen couragiert auftritt.