junge Welt, 19.10.2000

Wie kann sich die OSZE den Fängen der NATO entziehen?

jW sprach mit Dr. Hans Voß, Mitglied des Vorstandes des Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht e. V.

(Dr. Voß war Botschafter der DDR in Rumänien und Italien und leitete DDR-Delegationen bei KSZE-Nachfolgekonferenzen)

F: Internationale Beobachter geben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Nachfolgerin der KSZE, nur noch wenig Überlebenschancen. Sie dagegen gehören zu dem Kreis der - wie Sie sich selbst bezeichnen - »unverbesserlichen OSZE-Optimisten«. Woher nehmen Sie Ihre Hoffnungen?

Ich bin mir der eingeschränkten Möglichkeiten der OSZE in vollem Maße bewußt. Seit langem wird ihr Bewegungsspielraum eingeengt. Es fehlt am politischen Willen wichtiger Teilnehmerstaaten, die OSZE als bedeutenden sicherheitspolitischen Faktor in Europa zu betrachten und demgemäß zu handeln. Dennoch zeigt sich andererseits, daß die OSZE über Fähigkeiten verfügt, die andere Organisationen, wie die NATO, nicht besitzen. Diese können zwar Kriege führen, jedoch mit den Folgen der Kriege werden sie nicht fertig. Bei der Konfliktvorbeugung und der Überwindung der Folgen von Konflikten ist die OSZE unverzichtbar.

F: Aufmerksame Beobachter stellen aber fest, daß die OSZE dabei in immer größere Abhängigkeit zur NATO gerät. Was müßte getan werden, um die Selbständigkeit der OSZE gegenüber der NATO durchzusetzen?

In der Tat ist festzustellen, daß die OSZE bei wichtigen Missionen in Abhängigkeit vom Vorgehen der NATO agiert. Ihre Mission in Bosnien-Herzegowina kam erst zum Einsatz, als die NATO einen Waffenstillstand erzwungen und die Kriegsparteien zur Annahme des Abkommens von Dayton veranlaßt hatte. Ähnlich vollzogen sich die Dinge im Kosovo. Auch hier übernahm die OSZE Aufgaben des zivilen Wiederaufbaus, als die NATO-Bombardements auf Jugoslawien beendet worden waren. In beiden Fällen hatte die OSZE auf die jeweiligen Entwicklungen keinen Einfluß, mußte jedoch Aufgaben übernehmen, deren Erfolg in hohem Maße vom weiteren Agieren der NATO abhängt. Das ist dazu angetan, die Stellung der OSZE zu diskreditieren. Eine gesicherte Zukunft der OSZE dürfte daher davon abhängen, wie es den Teilnehmerstaaten der Organisation gelingt, sich den Fängen der NATO zu entziehen. Die Zeichen dafür stehen jedoch im Augenblick schlecht.

F: Auf dem letzten OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 wurde die europäische Sicherheitscharta verabschiedet. Welche Chancen bietet sie, die Stellung der OSZE zu verbessern?

Als vor mehr als fünf Jahren mit der Ausarbeitung der Charta begonnen wurde, bestand vielerorts die Hoffnung, daß ein solches Dokument einen wesentlichen Beitrag zur Ausprägung der Rolle der OSZE leisten würde. Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Zwar wurde die gegenwärtige Stellung der OSZE bestätigt, ihr verbleiben Aufgaben der Konfliktvorbeugung und der Überwindung der Folgen von Konflikten. Zusätzliche Aufgaben wurden ihr aber nicht zugewiesen. Es verbleibt die starke Abhängigkeit von der NATO. Wenn man so will, wurde die Rolle der OSZE nicht weiter geschmälert. Eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten trat aber auch nicht ein.

F: Die OSZE-Mission im Kosovo ist unter anderem dafür verantwortlich, Wahlen zu organisieren und zivile Strukturen zu schaffen. Wie sehen Sie das Festhalten der OSZE am Termin für Kommunalwahlen am 28. Oktober, obwohl die Situation in Jugoslawien von vielen Unwägbarkeiten geprägt ist?

Ich halte es für dringend angeraten, den Termin der Wahlen zu verschieben. Im Kosovo selbst wird im wesentlichen nur der albanische Bevölkerungsteil zu den Urnen gehen. Die serbischen Bewohner sind entweder vertrieben oder weigern sich, an den Wahlen teilzunehmen. Das Wahlergebnis bewirkt somit, daß gegenwärtige Strukturen der Verselbständigung des Kosovo verfestigt werden. Das ist angesichts des jüngsten Machtwechsels in Belgrad besonders problematisch, könnten Wahlen doch als deutlicher Affront gegenüber dem vom neuen Präsidenten vertretenen Einheitsgedanken der jugoslawischen Föderation verstanden werden.

F: Die Mitgliedschaft Jugoslawiens in der OSZE ist bekanntlich seit Jahren suspendiert. Kann die OSZE unter diesen Umständen überhaupt eine Rolle bei den geplanten Wahlen für die neue Führung in Belgrad spielen?

Wie viele Beobachter bin auch ich der Meinung, daß die Suspendierung Jugoslawiens in der OSZE ein Fehler war. Die europäischen Staaten berauben sich damit der Möglichkeit, mit den Mitteln der OSZE auf die jugoslawische Führung einzuwirken. Amerikanische Starrheit verhinderte in den letzten Jahren, daß dieser Fehler revidiert wurde. Mit dem Machtwechsel in Belgrad dürfte jedoch ein Sinneswandel eintreten. Es ist damit zu rechnen, daß Jugoslawien über kurz oder lang seinen Platz in der OSZE zurückgewinnen wird. Und selbst wenn das bis zum Dezember nicht erfolgt sein wird, dürfte die OSZE eingeladen werden, Wahlbeobachter zu entsenden.

Interview: Franz-Karl Hitze