Frankfurter Rundschau, 19.10.2000

Barak beendet Blockade von Palästinenserstädten

Verletzte bei Unruhen in Israel / Sondertruppe nimmt nach Lynchmorden acht Verdächtige fest

Von Inge Günther

Die Abmachung über einen Gewaltverzicht von Scharm-el-Scheich hat bislang nur im Ansatz gegriffen. Tausende Palästinenser, die sich nicht daran gebunden fühlen, setzten ihre Proteste fort. Israels Regierungschef Ehud Barak hob dennoch am Mittwoch die Abriegelung aller Städte in den palästinensischen Gebieten auf.

JERUSALEM, 18. Oktober. Wieweit die beim multinationalen Krisengipfel von Scharm-el-Scheich vereinbarten Schritte zur Deeskalation wirklich gelingen, wird sich am Freitag herausstellen. Dann läuft die 48-Stunden-Frist ab, die Israel der palästinensischen Autonomie-Regierung gesetzt hat, um deren Teil der Abmachung zu realisieren. Die so genannte Testperiode begann bei einem Treffen von Vertretern der Sicherheitsbehörden beider Seiten, das am Mittwochmittag am Grenzpunkt Eres in Gaza stattfand.

Dort kursierte auch ein Papier, in dem sich die Autonomieführung verpflichtet, "Spannungen und Gewalt abzubauen".

Die von Israel erhoffte Ankündigung von Palästinenserpräsident Yassir Arafat, in öffentlicher Ansprache an sein Volk zum Gewaltverzicht aufzurufen, blieb zwar zunächst aus. Dennoch gab Premier Ehud Barak die Aufhebung der Blockade und der Grenzübergänge bekannt. Die Öffnung des Flughafens in Gaza war bereits am Montag erlaubt worden.

Neben eher unverbindlichen Absichten wurde in Scharm-el-Scheich nach israelischen Zeitungsberichten eine geheime Übereinkunft verabredet. In ihrem Kern sehe sie eine erneuerte Kooperation in Sachen Terrorabwehr zwischen den Geheimdiensten der Israelis und der Palästinenser unter Supervision der USA vor. Darüber hinaus sollen erstmals CIA-Agenten in Absprache mit den Palästinensern vor Ort eingesetzt werden.

Nicht zuletzt daraus resultierten Spekulationen über eine Operation, bei der am Mittwoch der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Beit und eine Sondereinheit der Armee acht des Lynchmordes verdächtigte Palästinenser festnahmen. Ihnen wird vorgeworfen, vor einer Woche in der Polizeiwache von Ramallah zwei dort festgehaltene israelische Soldaten getötet zu haben. Identifiziert wurden die Männer mittels eines Videofilms von den Morden. Die Festnahme der mutmaßlichen Täter erfolgte offenbar in einem von Israel und Palästinensern gemeinsam kontrollierten Gebiet nahe Ramallahs.

Das israelische Militär hatte zuvor einige Panzer zurück beordert, die in den vergangenen Tagen in der Nähe mehrerer Westbank-Städte postiert worden waren. Zu einem weiteren Rückzug war Israel aber nicht bereit, da es in der Nacht wie auch am Mittwoch heftige Zusammenstöße gab. Dabei wurden mehrere Menschen verletzt. An der südlichen Stadtgrenze Jerusalems brachte die Armee sogar zusätzliche schwere Geschütze in Stellung, nachdem mutmaßlich radikale Fatah-Mitglieder auf das jüdische Viertel Gillo geschossen und mehrere Bewohner sowie einen israelischen Soldaten verletzt hatten. Ungeachtet der Vereinbarung von Scharm-el-Scheich beschloss die Führung der PLO-Mehrheitsfraktion Fatah, weiter gegen die Besatzung zu demonstrieren. Unter der Bedingung, dass israelische Soldaten von Provokationen Abstand nehmen, sollte aber kein Gebrauch von Waffen gemacht werden. "Wir werden die Intifada bis zu unserer Unabhängigkeit und Souveränität voran treiben", sagte der Generalsekretär der Fatah im Westjordanland und Anführer ihrer militanten und bewaffneten Gruppe Tansim, Marwan Barghouti.

Angeblich haben mehrere radikale Palästinensergruppen den Samstag und Sonntag zu "Tagen der Eskalation" erklärt. Ohne die Namen dieser Gruppen zu nennen habe dies die Demokratische Front für die Befreiung Palästina (DFLP) erklärt, berichtete die Agentur afp.

Selbst Palästinenser, die ein Ende des Blutvergießens herbei wünschen, äußerten sich am Mittwoch enttäuscht über die Ergebnisse, die Arafat aus Scharm-el-Scheich heimbrachte.

In Israel wurde die Abmachung, die den Weg zu neuen Friedensgesprächen öffnen soll, im rechten Lager heftig angegriffen. Sollte Premier Ehud Barak tatsächlich den Prozess von Camp David fortsetzen wollen, "als ob nichts passiert wäre", sehe er, so Oppositionschef Ariel Scharon, "keinen Grund" mehr, einer Notstands-Regierung beizutreten. Wie eine Blitzumfrage ergab, zweifeln 77 Prozent der Israelis daran, dass Arafat wirklich ein Ende der Unruhen wolle.