Neue Zürcher Zeitung (CH), 18.10.2000

Kritik von Amnesty am Vorgehen Israels

Unverhältnismässiger Einsatz von Gewalt

jpk. Genf, 16. Oktober

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die israelischen Sicherheitskräfte des unverhältnismässigen Einsatzes von Gewaltmitteln beim Vorgehen gegen die palästinensischen Demonstranten in den vergangenen Tagen bezichtigt. Armee- und Polizeieinheiten hätten sich verhalten, als ob ein Feind vernichtet und nicht als ob Demonstranten unter Kontrolle gehalten werden müssten, erklärte die für die Region zuständige Expertin von Amnesty, Elizabeth Hodgkin, am Montag in Genf.

Laut Hodgkin haben die Sicherheitskräfte systematisch Gummimantelgeschosse und scharfe Munition gegen die Demonstranten eingesetzt, obwohl dies in den wenigsten Fällen notwendig gewesen sei. Es sei damit der unnötige Tod von Demonstranten bewusst in Kauf genommen worden. Steine werfende Kinder könnten keine Menschenleben gefährden, und auch Molotow-Cocktails seien in den wenigsten Fällen lebensgefährlich. Der Einsatz von Schusswaffen sei nur dann zu rechtfertigen, wenn das Leben der Polizisten oder Soldaten gefährdet ist.

Hodgkin hatte Israel in Begleitung eines britischen Polizeibeamten, der auf die Bekämpfung von Unruhen spezialisiert ist, zwischen dem 4. und dem 13. Oktober besucht. Wie Hodgkin gegenüber Journalisten erklärte, sei der Polizeibeamte zum Schluss gekommen, dass die völlig unverhältnismässige Art der Bekämpfung der palästinensischen Demonstrationen mit zur weiteren Eskalation der Lage und schliesslich zum fast völligen Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung geführt habe. Destabilisierend habe sich zudem ausgewirkt, dass in keinem einzigen Fall eine Untersuchung der Übergriffe eingeleitet worden sei. Ein solches Verhalten lasse die Betroffenen auch den letzten Rest von Respekt vor Recht und Ordnung verlieren, erklärte Hodgkin. Um dem geltenden Recht nun endlich Respekt zu verschaffen, müssten die Vorgänge der vergangenen Wochen minuziös untersucht und die für die Übergriffe Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, sagte die Expertin von Amnesty.