Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2000

Der türkische Zorn trifft den großen Bruder in Washington

Ankara - Wenn sich die Türkei so richtig über den großen Bruder in Washington ärgert, dann muss Saddam Hussein ran. Lange Jahre hatte Ankara die Beziehungen zum Nachbarstaat und US-Erzfeind Irak auf Sparflamme heruntergefahren, weil die Uno-Sanktionen gegen Bagdad und die Vereinigten Staaten es so wollten. Doch nun soll damit Schlusss sein.

Von unserem Korrespondenten THOMAS SEIBERT, Ankara

Mit demonstrativen Hilfsflügen nach Bagdad und Plänen zur vermehrten Öleinfuhr aus Irak sowie zur Öffnung eines neuen Grenzübergangs signalisiert die türkische Regierung mitten in der Nahost-Krise eine Annäherung an das Regime Husseins. Selbst die Entsendung eines Botschafters aus dem Nato-Staat Türkei nach Bagdad wird geprüft. Nach offizieller Lesart entspringen diese Gesten lediglich den Eigeninteressen der Türkei. Doch in Wirklichkeit soll die türkisch-irakische Annäherung als Drohung gegen die USA dienen. Denn im US-Kongress wird derzeit über eine Resolution beraten, die den Tod mehrerer 100000 Armenier in der Türkei im Ersten Weltkrieg als "Völkermord'' der Türken geißelt. Ankara will die Annahme dieser Resolution mit allen Mitteln verhindern - und der neue Schmusekurs mit Bagdad ist eines davon.

Ein Ausschuss des amerikanischen Repräsentantenhauses hatte vor zwei Wochen einen Resolutionsentwurf verabschiedet, nach dem das Osmanische Reich als Vorgängerin der heutigen türkischen Republik für den "Völkermord'' an 1,5 Millionen Armeniern zwischen 1915 und 1923 verantwortlich war. US-Präsident Bill Clinton ist wegen der zu erwartenden Probleme mit dem Verbündeten Türkei gegen die Annahme der Resolution im Repräsentantenhaus, das sich voraussichtlich in dieser Woche mit dem Thema befassen will. Ankara beobachtet die Gespräche und Verhandlungen der US-Politiker mit großer Nervosität. Regierung, Militärführung und Staatspräsident warnten die USA vor der Annahme des Textes, der die Türken auf dieselbe Stufe wie die Nazis oder das kambodschanische Pol-Pot-Regime stellen würde.

Von der Türkei wird nicht bestritten, dass den Armeniern während des Ersten Weltkrieges unendliches Leid zugefügt wurde, als sie von Ostanatolien nach Syrien deportiert wurden. Zwar schätzt die offizielle türkische Geschichtsschreibung die Zahl der Opfer dieser Zwangsmärsche mit rund 300000 erheblich niedriger ein als armenische Historiker, doch bildet auch dies nicht den eigentlichen Streitpunkt. Den Türken geht es um den Vorwurf des Völkermordes. Ankara weist darauf hin, dass sich das Osmanische Reich im Krieg mit Russland befand, das die armenische Volksgruppe mit dem Versprechen auf einen eigenen Staat lockte. Weil armenische Partisanen hinter den osmanischen Reihen als Verbündete der Russen kämpften, habe das Reich nur in Selbstverteidigung gehandelt.

Die frühere Ministerpräsidentin Tansu Ciller hat den Streit noch angeheizt: Sie hat damit gedroht, die Luftwaffenbasis Incirlik für US-Kampfjets zu sperren, sollte Washington die Resolution verabschieden. Ciller ging noch weiter: Sie forderte, die Ausweisung mehrerer zehntausend armenischer Gastarbeiter aus der Türkei zu prüfen.