Frankfurter Rundschau, 17.10.2000

"Ihr müsst schießen, um die Menge zu stoppen"

Nach Lynchmorden herrscht in Ramallah Bestürzung / Palästinensischer Polizeichef äußert Scham und Selbstkritik

Von Inge Günther (Ramallah)

Der Schock über den Lynchmord von Ramallah an zwei israelischen Reservisten wirkt auch unter Palästinensern nach. Der Polizeichef jener Wache, die ein rasender Mob am vergangenen Donnerstag erstürmte, um über die dort festgehaltenen Soldaten herzufallen, hat erstmals offen seine Scham über das Geschehen bekannt. Den Akt der Barbarei bezeichnete der palästinensische Polizeioberst, Kamel el-Scheich, in einem Interview mit der israelischen Zeitung Haaretz als "das größte Versagen der Autonomie-Regierung". Er erkenne darin nicht nur eine Schande für seine Polizeikräfte, die die Opfer nicht zu schützen vermochten, sondern "auch für mich persönlich".

Dennoch hätten die Bediensteten der Wache - zur Tatzeit sollen es 21, großteils Schreibtischbeamte, gewesen sein - ihr Bestmögliches versucht, sich der tobenden Menge entgegen zu stellen. Schließlich seien 13 der diensttuenden Polizisten dabei verletzt worden, auch er selbst, so el-Scheich. "Als der Mob den Raum aufbrach, habe ich mich auf einen der israelischen Soldaten gelegt, um ihn mit meinem Körper zu decken." Jedoch sei es den Eindringlingen gelungen, ihn mit Gewalt wegzustoßen.

Noch immer fassungslos, dass die Wut der Massen nicht aufzuhalten war, ist auch Saleh Abdel Jawad, ein Geschichtsprofessor der Birzeit-Universität, der nahe der Polizeiwache lebt. Schon auf der Straße hätten tausende getobt. "Erst sprangen sie verrückt auf dem Auto der Soldaten herum, zerstörten mit Brachialgewalt jedes kleinste Teil. Dann tönte der Ruf, ,die Israelis sind in der Wache'. Mir schwante das Schlimmste", sagte Jawad im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. "Ich war so verzweifelt, dass ich den Polizisten zurief: ,Ihr müsst schießen, um die Menge zu stoppen.' " Anschließend sei ihm keine andere Wahl geblieben, als sich vor der drohenden Rache in Sicherheit zu bringen.

Polizeichef el-Scheich verteidigte seine Entscheidung, keinen Schießbefehl erteilt zu haben. Unter den aufgebrachten Demonstranten hätten sich "mindestens hundert Bewaffnete" befunden - mutmaßlich Mitglieder der militanten Tansim, einer Untergruppe der Fatah-Partei. "Hätte die Polizei das Feuer eröffnet, wäre das ein schreckliches Blutbad geworden." Nach Angaben el-Scheichs hat die palästinensische Polizei eine Untersuchung begonnen, um die Schuldigen der Lynchjustiz zu ermitteln. Auch wenn noch keiner verhaftet worden sei, würden alle Beteiligten vor Gericht gestellt. Die Weisung dazu soll PLO-Chef Yassir Arafat erteilt haben, nicht zuletzt, weil die Morde von Ramallah das Image seiner Autonomie-Regierung schwer beschädigten.

Vermutet wird aber auch, dass die Mörder von Ramallah von palästinensischen Behörden zur Rechenschaft gezogen werden sollen, um sie vor Vergeltungsschlägen seitens Israels zu schützen. Bereits unmittelbar nach der Tat hatte das israelische Kabinettsmitglied Benjamin Ben-Elisier gedroht: "Wir werden uns einen nach dem anderen schnappen, auf diese oder jene Weise, dann, wenn sie am wenigsten damit rechnen." In Panik sollen die maßgeblichen Täter abgetaucht sein.

Die Menschen in Ramallah sind inzwischen ohnehin über den Lynchmord bestürzt. Allerdings wird auch auf begünstigende Tatumstände hingewiesen. So gab es zeitgleich an jenem Donnerstag, als die beiden Reservesoldaten irrtümlich in die autonom verwaltete Westbank-Stadt einbogen, zwei große Begräbnisse von Palästinensern, die von der israelischen Armee erschossen worden waren. Der Mob rekrutierte sich vor allem aus zornerfüllten Teilnehmern dieser Beerdigungen. Zudem kursierten Gerüchte, dass israelische Todesschwadrone die Anführer der Intifada zu liquidieren trachteten.

So gut wie auszuschließen ist freilich, dass die Opfer einer Undercover-Einheit angehörten. Ihr Fahrzeug trug israelische Nummernschilder und war mit hebräischen Stickern beklebt.