Neue Ruhr Zeitung, 17.10.2000

Calhans Abschiebung vorerst verschoben

Kreis Wesel. Es war ein stiller Protest gegen die Abschiebung des kurdischen Flüchtlings Hüseyin Calhan gestern Vormittag vor dem Kreishaus. Voller Verzweiflung hatten sich zahlreiche Wegbegleiter des 27-Jährigen getroffen, um vielleicht doch noch die Entscheidung des Kreises als zuständige Ausländerbehörde umzukehren. Viel scheint daran aber nicht mehr zu rütteln zu sein. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat seinen Eilantrag auf einstweilige Duldung zurückgewiesen und auch das NRW-Innenministerium billigt den Beschluss.
Allerdings: Der für heute angesetzte Rückflug nach Istanbul wurde storniert, weil zunächst noch ein Facharzt über die Reisefähigkeit des Sprechers der kurdischen Flüchtlinge im Wanderkirchenasyl befinden soll. Schließlich hatten ihm zuvor mehrere Ärzte bescheinigt, akut selbstmordgefährdet, stark traumatisiert und nicht transportfähig zu sein.
Als Hermann-Josef Diepers vom Flüchtlingsplenum Aachen Gaby Brenner und Ingeborg Fischer vom Flüchtlingsrat Mönchengladbach vor dem Kreishaus mitteilt, dass er soeben per Handy mit Hüseyin Calhan gesprochen hat, fließen bei allen dreien die Tränen. Denn Calhan ist im Bürener Gefängnis in einen so genannten Abschieberaum gebracht worden, soll schon 24 Stunden später im Flugzeug in die Türkei sitzen. Die beiden Frauen können es nicht begreifen und erzählen, was Calhan in Istanbul erwartet: "Er wird sofort inhaftiert", sagt Ingeborg Fischer, "dann werden ihm die Augen verbunden und er wird tagelang gefoltert, bis er unterschreibt, dass er aktiv für die PKK gearbeitet hat." Dass das Verwaltungsgericht dies anders sieht, ist für die Vertreter der Menschenrechtsorganisationen nicht nachvollziehbar.
Ursula Neumann aus Aachen hat Calhan noch am Sonntag im Gefängnis besucht. Fast anderthalb Stunden durfte sie bei ihm sein, obwohl eigentlich nur eine Stunde erlaubt ist. Jetzt vermutet sie, dass dies deshalb der Fall war, weil alle schon wussten, dass er zwei Tage später Deutschland verlassen soll. Der 27-Jährige sei sehr schlapp gewesen, berichtet sie, und er habe auch geweint. Seine Zellengenossen hätten versucht, ihn zu überreden, den Hungerstreik auszusetzen. Doch dies wolle er keinesfalls tun.
Unterdessen spricht Agnes Bieling vom Komitee Aachener Friedenspreis, dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist, von einer Täuschung. Schließlich habe sich der Arzt, der Hüseyin Calhan am Freitag aufsuchte, zunächst gar nicht als solcher zu erkennen gegeben, ja ihn noch nicht einmal körperlich untersucht. Jetzt dürfe man auf keinen Fall resignieren, auch wenn alles aussichtslos erscheine, findet sie.
Als gegen Mittag die beiden Kreisvertreter von einem Gespräch mit Mitarbeitern des Innenministeriums und Vertretern des Petitionsausschusses in Düsseldorf zurückkehren, wird seitens des Kreises entschieden, den Flug zu stornieren. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte bei den Demonstranten mit dem gelben Transparent und der kleinen Holztafel vor allem Ratlosigkeit. Während ein paar von ihnen zwei Stunden mit der zuständigen Sachbearbeiterin hinter verschlossenen Türen sprechen, überlegen die anderen, welche Schritte noch eingeleitet werden könnten. Für eine Fahrt nach Düsseldorf ist es zu spät, aber sämtliche Medien sollen auf den Fall aufmerksam gemacht werden.
Für Kreisdirektor Dr. Ansgar Müller und Dezernent Helmut Schult gibt es keinen Zweifel, dass die Entscheidung des Kreises richtig ist. Schließlich sei sie gerichtlich nachgeprüft und bestätigt worden. Außerdem könne ein Petitionsverfahren eine Abschiebung nicht stoppen. Auch eine Abtretung des Falles an die Stadt Aachen sei nicht möglich, sondern der Kreis die zuständige Behörde.
Von PETRA HERZOG