Frankfurter Rundschau, 17.10.2000

Türkische Islamisten setzen auf die EU

Verfassungsgericht entscheidet über Verbot der fundamentalistischen Tugend-Partei

Von Gerd Höhler (Athen)

Noch vor wenigen Jahren wollten die türkischen Islamisten vom Westen gar nichts wissen. Die EU galt ihnen als "christlicher Club", die Zollunion verteufelten sie als "Instrument zur Versklavung der Türken". Jetzt aber suchen sie Zuflucht ausgerechnet in Europa. Die EU soll helfen, das drohende Verbot ihrer Tugend-Partei (FP) abzuwenden.

Bereits Anfang 1998 hatte das Verfassungsgericht in Ankara die damalige islamistische Wohlfahrtspartei (RP) wegen verfassungswidriger Aktivitäten verboten. Schon ein Jahr später eröffnete Generalstaatsanwalt Vural Savas ein Verbotsverfahren gegen deren Nachfolgeorganisation, die Tugend-Partei. Mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts wird im November gerechnet.
Ein Verbot der FP würde wohl bei den mächtigen türkischen Militärs Beifall finden. Sie sehen in der Partei, die bei den Wahlen vom Frühjahr 1999 auf 15 Prozent der Wählerstimmen kam, eine Gefahr für die weltliche Verfassungsordnung. Doch eine Zwangsschließung der FP könnte dem Land schwere innenpolitische und wirtschaftliche Turbulenzen bescheren.
Generalstaatsanwalt Savas will nicht nur die Partei verbieten lassen; auch sollen 70 ihrer 103 Abgeordneten, die zuvor der Wohlfahrtspartei angehörten, ihre Mandate verlieren. Damit würden, so schreibt es die Verfassung vor, Neuwahlen fällig. Dass dabei klare Mehrheitsverhältnisse herauskämen, ist angesichts der Zersplitterung der Parteienlandschaft nicht zu erwarten. Monatelange Koalitionsverhandlungen könnten das Land lähmen. Auf der Strecke bleiben dürfte in einem solchen Fall nicht zuletzt das vom Internationalen Währungsfonds gestützte Programm zur Sanierung der türkischen Volkswirtschaft.
Selbst wenn das Verfassungsgericht die Partei zwar verbieten, den FP-Abgeordneten aber ihre Mandate belassen sollte, wären Neuwahlen kaum zu vermeiden. In diesem Fall nämlich wollen die islamistischen Abgeordneten mit einem geschlossenen Rücktritt der ganzen Fraktion einen Urnengang erzwingen.
Ein Parteienverbot würde aber auch das Verhältnis der Türkei zur EU schwer belasten, zumal sich die FP in den vergangenen Jahren deutlich mäßigte und inzwischen eher ein soziales als ein religiöses Profil hat. Die führenden FP-Politiker setzen nun auf Europa. Ankara, so kalkulieren sie, könne es sich außenpolitisch gar nicht leisten, die Partei zu schließen. Andererseits jedoch gelten die elf Verfassungsrichter, die nun über den Verbotsantrag entscheiden müssen, als unabhängig.
FP-Chef Recai Kutan besuchte Ende September den Europarat und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Beobachter interpretierten das als Indiz dafür, dass die Partei bei einem möglichen Verbot europäische Gerichte anrufen wird. Für die kommenden Wochen plant Recai Kutan auch Visiten in Frankreich, Deutschland und Großbritannien.
Pressespekulationen, wonach sich die FP-Führung bereits mit der Gründung einer Nachfolgepartei beschäftige, um im Fall eines Verbots zügig weiterarbeiten zu können, dementierte Kutan jetzt nachdrücklich. Es gebe "absolut keine Pläne" zur Gründung einer neuen Partei. "Die Türkei ist ein Rechtsstaat, und die Tugend-Partei wird nicht verboten werden", erklärte der FP-Chef selbstbewusst.

Prozess gegen populären Prediger
ISTANBUL/ANKARA (dpa). In der Türkei hat am Montag ein Prozess gegen den populären Islamisten und Prediger Fethullah Gülen begonnen. Der Prozess werde in Abwesenheit des Angeklagten geführt, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Gülen hält sich nach Angaben seiner Anwälte zur medizinischen Behandlung in den USA auf. Das Staatssicherheitsgericht in Ankara entschied, es sei derzeit nicht notwendig, seine Auslieferung zu beantragen.
Die Anklage wirft dem Prediger vor, eine illegale Organisation mit dem Ziel gegründet zu haben, die laizistische Staatsordnung (Trennung von Staat und Religion) durch einen islamischen Staat zu ersetzen. Gülen droht eine Haftstrafe bis zu zehn Jahren.