junge Welt, 17.10.2000

Interview

Warum heute noch an Stammheim erinnern?

jW sprach mit Ilse Schwipper und Ehan Akin von der »Initiative 18. Oktober«

F: Was bedeutet Stammheim für Sie als langjährige politische Gefangene?
Schwipper: Der 18. 10. ist für mich in erster Linie eine unglaubliche Zäsur. Ich habe den Tag im Knast erlebt, war erschrocken und unglaublich traurig. Mir war sofort klar, daß das Datum die Niederlage für die radikale Linke in der BRD bedeutet.
F: Warum sollte im Jahr 2000 daran erinnert werden?
Schwipper: Es ist generell wichtig, an tote Revolutionäre zu erinnern. Nicht um der Niederlage zu gedenken, sondern um daran zu erinnern, daß es Menschen gegeben hat, die dem Staat Paroli geboten haben. Wir zeigen damit, daß Kampf notwendig ist, wenn wir etwas verändern wollen. In Zeiten tiefster Resignation bedeutet für mich das Erinnern an die Guerilla auch einen Rückblick auf Kämpfe, die zur Veränderung dieser Gesellschaft beigetragen haben.
F: Herr Akin, welche Bedeutung hat für Sie als Mitglied des Solidaritätskomitees für die politischen Gefangenen in der Türkei (Detudak) Stammheim?
Akin: Stammheim ist für uns der Ort, an dem politische Gefangene in Isolationstrakten unter bis heute ungeklärten Bedingungen zu Tode gekommen sind. Früher war Stammheim in der Türkei nur in der politischen Linken ein Begriff. Erst im letzten Jahr haben in der türkischen Öffentlichkeit mehr Menschen erfahren, wo Stammheim liegt und was dort passiert ist.
F: Woher kam das plötzliche Interesse?
Akin: Seit Jahren versucht die türkische Regierung, Isolationsgefängnisse einzurichten. In diesem Jahr wurden die Pläne konkret. 14 F-Typ-Gefängnisse nach dem Modell Stammheim sind schon bezugsfertig.
F: Wie groß ist der Widerstand gegen diese Pläne?
Akin: Anfangs war er ziemlich gering und ging nur von den politischen Gefangenen und ihren Angehörigen aus. Doch im letzten Jahr hat sich der Widerstand wesentlich verbreitert. Dabei spielte das Massaker im türkischen Gefängnis Ulucanlar im letzten September eine wichtige Rolle. Die Bilder der Gefolterten und Toten wurden veröffentlicht. Die Brutalität hat die Bevölkerung schockiert und den Widerstand gegen die Isolationsgefängnisse verbreitert. Das Solidaritätskomitee für die politischen Gefangenen in der Türkei (Detudak) ist eine von vielen politische Gruppierungen im Ausland.
F: Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Akin: Wir machen jedes Wochenende an verschiedenen Plätzen Berlins Informationsstände und sammeln Unterschriften gegen die Isolationshaft. Wir besuchen Zeitungen, Parteien, Abgeordnete und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, die wir über die Pläne der türkischen Regierung informieren.
F: Wie reagiert die türkische Regierung auf die Proteste?
Akin: Die Einführung der sogenannten F-Zellen sollte schon im Mai beginnen. Durch die Proteste mußte die türkische Justiz aber zunächst Gegenpropaganda verbreiten. Auch die Gefangenen haben immer wieder ihre Entschlossenheit bekräftigt, lieber zu sterben als in die Isolationszellen zu gehen. Deshalb hat die türkische Regierung vorerst einen Rückzieher gemacht, ist aber weiterhin entschlossen, die Gefangenen zu isolieren.
F: Was ist in Berlin am 18. 10. geplant?
Schwipper: Ab 18 Uhr wird es am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg eine Videokundgebung geben. Es werden Dias zum deutschen Knastsystem gezeigt. Anschließend wird es einen Film über den Widerstand der Gefangenen in der Türkei gegen die Isolationsknäste geben. Aus aktuellem Anlaß ist ein kurzer Beitrag zur Situation des in der Todeszelle sitzenden afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal vorgesehen. Für das musikalische Programm sorgt die türkische Band Grup Yorum, die ab 21 Uhr in der Roten Insel in der Mansteinstraße 10 ein Solidaritätskonzert geben wird.
Interview: Peter Nowak
*** Am 18. Oktober veranstaltet die Initiative »18.Oktober« zum Jahrestag des Todes der RAF-Gefangenen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader unter dem Motto »Kein Stammheimexport am Bosporus« eine Video-Dia-Kundgebung am Kottbusser Tor in Berlin.