taz 16.10.2000

Schrille Schreie in Lila

Mit der bisher größten internationalen Frauendemonstration in Brüssel fand am Wochenende der Weltfrauenmarsch ein Ende. Morgen erhält die UNO in New York mehrere Millionen Unterschriften

aus Brüssel DOROTHEA HAHN

Eine rote Zahl prangt auf dem lila Transparent, das Ana an diesem Nachmittag mit sich trägt. Eine einzige bloß: "4.747.000". Was das ist? "Das sind die Scheißjobs für Frauen im neuen Spanien", antwortet die Bankkauffrau aus Katalonien trocken: "Das sind Dumpinglöhne, erzwungene Teilzeitarbeit, die ständige Drohung mit dem Rausschmiss und der Mangel an Perspektive."

30.000 Frauen aus der ganzen Welt haben sich an diesem Samstag in Brüssel zusammengefunden, um gegen Frauenarmut und Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren. Es ist die letzte europäische Etappe eines langen Marsches, der am 8. März, dem internationalen Frauentag, begann. Über 5.600 Organisationen, Gewerkschaften und feministische Gruppen, aus 157 Ländern fanden sich zusammen. In den vergangenen Monaten sind sie in wechselnder Besetzung kreuz und quer durch den Kontinent gezogen, haben immer neu angeprangert, dass "die Ärmsten der Armen Frauen sind". Dass Frauen selbst im reichen EU-Europa nur 73 Prozent der Löhne von Männern bekommen. Und dass Frauen weltweit das traurige Privileg haben, die meisten Gewaltopfer und die meisten Flüchtlinge zu stellen.

Am morgigen Dienstag wird der Weltfrauenmarsch in New York zu Ende gehen. Am Hauptsitz der Vereinten Nationen, wohin auch einige der Brüsseler Demonstrantinnen weitergeflogen sind, soll eine Petition mit Millionen von Unterschriften übergeben werden, die Frauen in den vergangenen Monaten gesammelt haben. Sie enthält Vorschläge von der Schuldenstreichung für die Dritte Welt bis hin zu einem internationalen Rahmengesetz zur Abschaffung der Armut.

In Brüssel sind an diesem Samstag Afghaninnen und Portugiesinnen, Irakerinnen, Palästinenserinnen und Deutsche dabei - unter vielen anderen. Gewerkschafterinnen haben sich "Miss Vergewaltigung"- und "Miss Elend"-Schärpen umgehängt. Eine "Nonne" bietet "lebenslängliche Jobs" für "unterwürfige und schweigsame Frauen" an. Schwarz gekleidete Römerinnen verlangen die Freiheit für eine kosovo-albanische Feministin.

In manchen Blocks - vor allem jenen aus Belgien und Frankreich, Ländern, wo sich die Gewerkschaften massiv an der Frauenweltmarschinitiative beteiligt haben - laufen auch Männer mit. "Wir wollen nicht länger die Chefs sein", steht auf einem Transparent. In anderen Gruppen sind Männer ausdrücklich "nicht erwünscht".

Untereinander können sich die meisten Demonstrantinnen nicht verständigen. Sie sprechen verschiedene Sprachen. Haben auch verschiedene Anliegen. Andalusierinnen reagieren heftig, als eine Gruppe von radikalen Baskinnen Lieder gegen den "spanischen Unterdrückerstaat" anstimmt. Türkinnen beargwöhnen die starke Gruppe kurdischer Frauen, die statt feministischer Forderungen große Bilder ihres inhaftierten Führers Öcalan mit sich tragen. Doch da sind auch viele verbindende Symbole: der kilometerlange Schal, den Frauen aus ganz Europa gestrickt und den sie jetzt um Hunderte von Schultern gewickelt haben; die schrillen Schreie, die Frauen aus Nordafrika in die Szene eingeführt haben. Und immer wieder die Farbe Lila.

Es ist die größte internationale Frauendemonstration, die Brüssel je erlebt hat. Doch die Bevölkerung der "europäischen Hauptstadt" kriegt nichts davon mit. Die Demonstrantinnen werden von einem Park aus über die Rue de la Loi durch das menschenleere Viertel der Ministerien zurück in den Parque du Cinquantenaire geleitet. Es ist eine Demonstration unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die internationalen Nachrichtenagenturen schrumpfen sie zu einer Kurzmeldung zusammen.