Die Welt, 16.10.2000

Zuwanderung: Rühe und Müller distanzieren sich von Merz

Streit in der CDU weitet sich aus: Wahlkampf mit Ausländerthematik wird zum Zankapfel

Hamburg/Berlin - In der Union dauert der Streit um die Einwanderungspolitik an. Vor allem das Vorhaben von Fraktionschef Friedrich Merz, eine Kampagne gegen mehr Zuwanderung in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2002 zu stellen, stößt auf Widerspruch. CDU-Partei- und Fraktionsvize Volker Rühe, der sich in letzter Zeit mit politischen Äußerungen zurückgehalten hatte, ging am Wochenende auf Konfrontationskurs. Im "Spiegel" sprach sich Rühe für mehr Zuwanderung aus. Auch die Spitzen der Wirtschaftsverbände und die Regierungsparteien warnten davor, die Einwanderungspolitik zum Wahlkampfthema zu machen.

"Auf unserer letzten Klausurtagung waren wir uns einig, dass wir Zuwanderung brauchen. Und dass wir uns ins eigene Fleisch schneiden, wenn wir nicht zusätzlich Menschen nach Deutschland holen", sagte Rühe. Dies gelte auch dann, "wenn es uns nicht gelingt, zugleich dafür zu sorgen, dass wir weniger Asylbewerber bekommen". Eine Unterschriftenaktion zum Thema Einwanderung und Asyl lehnte der frühere Verteidigungsminister strikt ab. "Ob das ein Wahlkampfthema wird, würde ich mal abwarten."

Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) distanzierte sich ebenfalls von Merz. "Die Ausländer- und Einwanderungspolitik ist ein zu sensibles Thema, um es in den Mittelpunkt eines polarisierenden Wahlkampfes zu stellen", sagte Müller. Die Regelung des Zuzugs erfordere "eine sachliche Behandlung, um der Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes für die Bundesrepublik Rechnung zu tragen", betonte Müller, der auch Vorsitzender der CDU-Einwanderungskommission ist.

CDU-Chefin Angela Merkel stellte sich hinter Merz. Die Diskussion um die Einwanderung gehöre zu den aktuellen Themen. Es sei seltsam, wenn eine Partei verpflichtet werden solle, über bestimmte Themen überhaupt nicht zu sprechen, sagte Merkel. Auch Parteivize Christian Wulff stärkte Merz den Rücken. Es müsse "offen und sachlich ausgewogen" über die Zuwanderung von Ausländern diskutiert werden, sagte er der "Welt am Sonntag".

Rühe betonte, bei der Einwanderungsdiskussion gehe es um die Wirtschaftskompetenz der Union. "Wir werden von der Wirtschaft nicht ernst genommen, wenn wir bestreiten, dass wir auch die Zuwanderung von Tüchtigen und Integrationswilligen brauchen", sagte der stellvertretende Partei- und Fraktionschef. Manche türkische Familie sei "ein stabilisierendes Element im Vergleich zu deutschen Familien, die Sozialhilfeempfänger in der zweiten Generation sind".

Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft warnten unterdessen vor dem Wahlkampfthema "Einwanderung". Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, sagte der "Berliner Zeitung", Deutschland stehe "vor enormen Problemen, in den nächsten Jahren genügend Fachleute für viele Bereiche der Wirtschaft zu finden". Der Chef des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl, sagte, die Green-Card-Initiative zur Anwerbung von Computerspezialisten sei "ein deutlicher Fortschritt gegenüber der starren Einwanderungspolitik vergangener Jahre". Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte, wichtig sei, dass die Zuwanderungsdebatte konstruktiv und sachlich geführt werde.

SPD-Fraktionschef Peter Struck erklärte, die SPD werde "konsequent darauf bestehen, dass wir Zuwanderung in unserem Land brauchen". Die Ausländerkommission unter Leitung von Rita Süssmuth (CDU) solle so rechtzeitig ihr Ergebnis vorlegen, "dass wir vor der Bundestagswahl den Menschen klar sagen können, wie wir uns die Zuwanderung in Zukunft vorstellen".

Der CDU-Fraktionschef in Baden-Württemberg, Günther Oettinger, sagte dem Magazin "Focus": "Wir müssen das Thema Einwanderung in großer Sachlichkeit und guter Streitkultur, besser nicht mit Kampagnen und Plakataktionen angehen." Im Mittelpunkt des Wahlkampfs für die Landtagswahl am 25. März 2001, für die Merz den Beginn der Einwanderungskampagne angekündigt hatte, werde die Zukunftsfähigkeit Baden-Württembergs stehen, bezogen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt. DW