Freitag, 13.10.2000

Wolfgang Ullmann

Antikommunistischer Konsens

RASSISMUS

Deutsche Politiker vermengen Asylrecht mit Einwanderungsrecht und provozieren Antisemitismus

Den Tag der deutschen Einheit begehen sie mit Brandstiftungen. Ihr Alltag ist das Schänden jüdischer Gräber. Ihre Moral, ihre Gesinnung, vor allem aber die Tapferkeit ihrer Art beweisen sie ausschließlich an Wehrlosen. Wenn sie irgendwo das Faustrecht des Mobs, der Springerstiefel, der Bomberjacken und der Schlagringe aufgerichtet haben, dann nennen sie das allen Ernstes »national befreite Zonen«. Ihre Symbole sind die Reichskriegsflagge und das Hakenkreuz, mit dem sie Synagogen und Kirchen beschmieren, Zeichen, unter denen die größten Verbrechern des 20. Jahrhunderts organisiert und der Selbstmord Europas geplant wurde. Nur dadurch konnte er verhindert werden, dass eine alle Parteien übergreifende Koalition den Flächenbrand des totalen Rassismus löschen, die Brandstifter zur bedingungslosen Kapitulation zwingen und vor das Gericht der Völkergemeinschaft zu stellen vermochte.

Wie viele Hakenkreuze also werden noch nötig sein, um eine informierte deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie es nicht mit »Rechtsextremen«, sondern mit Neonazis zu tun hat? »Rechtsextreme«, »Rechtsextremismus«, das sind Beschönigungsvokabeln, die den Eindruck zu erwecken versuchen, die Aggression gegen Juden und Ausländer, gegen Synagogen und Kirchen seien extreme Auswüchse eines im Kern legitimen Anliegens, nämlich dessen, was man den »gesunden atriotismus« nennt. Wären diejenigen, die so reden, auch bereit, von einem »gesunden Antisemitismus« zu sprechen?

Wahrscheinlich würden sie dazu ebenso wenig bereit sein, wie sie sich weigern, im »Rechtsextremismus« den Neonazismus zu identifizieren, der gewiss nicht erst seit 1991 existent, aber der seit der Umdeutung der Friedlichen Revolution in eine partei- und machtpolitische Wende und dem Paradigmenwechsel vom antitotalitären zum antikommunistischen Konsens einen Erfolg nach dem andern feiert.

Sein erster großer Erfolg war die Übernahme der alten Forderung der Republikaner nach einer Einwanderungsbegrenzung durch die Blockierung des nach der Nazierfahrung in das Grundgesetz aufgenommenen bedingungslosen Asylrechtes.

An diesen Erfolg schloss sich sogleich der zweite, die öffentliche Durchsetzung der Fehlinformation, den von den neuen Stadien der Automatisierung und der Digitalisierung bewirkten Schwund von Arbeitsplätzen einwandernden Ausländern zuzuschreiben, die angeblich den nationalen Arbeitsmarkt überschwemmten. Dass das Gegenteil der Fall ist, wusste man schon vor der Greencardinitiative der Bundesregierung.

Da mochten noch so viele Unternehmen durch Streichung von Arbeitsplätzen ihre Börsendaten zu optimieren suchen; die öffentliche Meinungsbildung ereiferte sich nach wie vor über »Scheinasylanten« und »Wirtschaftsflüchtlinge« als Verursacher der Arbeitslosigkeit, und dies auch noch kurz nachdem dieselbe Öffentlichkeit die Flüchtlinge, die ihren Weggang aus der DDR ausdrücklich mit dem Wunsch nach dem Besitz der DM begründet hatten, als nationale Helden gefeiert hatte! Offenbar ein Beispiel des »gesunden Patriotismus«!

Hinter diesem Gedankenwirrwarr steht ein weiterer Erfolg des angeblich »nationalen« Chauvinismus: die Entrüstung über das Ausmaß der illegalen Einwanderung, die am lautesten von denen kommt, die gerade die Hauptverantwortung für diese Illegalität tragen. Mit der bar jedes Realitätsbezuges festgehaltenen Losung »Deutschland ist kein Einwanderungsland« verhinderten sie bis auf den heutigen Tag eine effektive Einwanderungsgesetzgebung, mit der Folge, dass deutsche Politiker und Juristen noch immer Asylrecht und Einwanderungsrecht vermengen, das eine gegen das andere aufzurechnen versuchen und damit die an unseren Grenzen herrschende Rechtlosigkeit durch diesen Rechtswirrwar verlängern und verstärken. Als ob das auf eine individuelle Notlage reagierende Asylrecht sich nicht aufs deutlichste von den kollektiven und sozialen Aspekten des Einwanderungsrechtes unterscheiden ließe!

Leider darf man sich, wenn man das sagt, nicht der Illusion hingeben, dieses Nichtunterscheiden sei einem Mangel an Einsicht geschuldet. Im Gegenteil! Es liegt ein politischer Wille vor, die Unterscheidung im Trüben einer populären Ausländerfeindschaft verschwinden zu lassen, damit deren Emotionen politisch instrumentalisierbar bleiben. Es ist dies auch der Punkt, an dem der Antisemitismus für die Zwecke der Fremdenfeindlichkeit eingespannt wird.

Denn dass Juden mit ihren Synagogen und Gräbern Arbeitsplätze blockieren, das wagt auch der ärgste Demagoge nicht zu behaupten. Wohl aber lässt sich das antisemitische Argument trefflich benutzen, wenn es darum geht, feindselige Stimmungen zu schüren, um von den eigentlichen Problemen der postkommunistischen Ära abzulenken. Umgekehrt bietet er eine treffliche Handhabe für diejenigen, die durch ihr gesetzgeberisches und politisches Handeln Fremdenhass schüren, aber sich gleichzeitig von dem letzteren zu distanzieren wünschen, indem sie öffentlich ihren Abscheu gegen jeden Antisemitismus beteuern.

Es ist diese Heuchelei, die dem Antisemitismus seit seinen ersten öffentlichen Propagandaaktionen im deutschen Reich durch Stöcker und Treitschke 1879 eignet, »ein klein wenig bescheidener, ein klein wenig toleranter, ein klein wenig mehr Gleichheit«, so lauten Stöckers harmlos klingende Appelle. Aber der Kontext seiner Worte machte es aller Welt klar, dass er sagen wollte: Juden sind unbescheiden, intolerant, ausgrenzend und müssen darum selbst aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt werden.

Es ist die gleiche Methode, mit der Walser in seiner Paulskirchenrede vom 11. 10. 1998, ohne Namen und Adressen zu nennen, eine Polemik zugunsten der angeblich in einen dauernden Anklagezustand versetzten Deutschen eröffnete, deren Ziel durch seinen geschmacklosen Ausfall gegen das Holocaust-Denkmal freilich unmissverständlich wurde. Wieder einmal waren es die armen Deutschen, die gegen die ihnen drohenden Moralkeulen verteidigt werden sollten. Dass die Stadt Halle dieser Art von Demagogie den Preis für das unerschrockene Wort verleihen will - und dies auch noch, nachdem zwei Jahre vergangen sind, in denen alle Welt sehen konnte, was Walser angerichtet hat! - das ist nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Symptom, wie weit die Neonazis bereits siegreich sind im Anstiften öffentlicher Verwirrung.

Glaubt man wirklich, durch ein Parteienverbot - übrigens das vierte einer Neonaziorganisation seit 1952! - dieser Verwirrung ein Ende setzen zu können? 1821 schrieb Ludwig Börne: »Der Judenhaß ist einer der pontinischen Sümpfe, welche das schöne Frühlingsland unserer Freiheit verpesten.« Auch unsere Freiheit, die nach 1989 gewonnene, wird von diesen giftigen Dünsten bedroht. Aber das Trockenlegen von Sümpfen ist nicht die Sache der Polizei, sondern die Sache aller Bürgerinnen und Bürger. Eben darum sind es zuerst deren Repräsentanten, und zwar alle, nicht nur der Bundestagspräsident allein, die den Neonazis eine Absage zu erteilen haben, die ihnen unmissverständlich klarmacht, dass man nicht nur ihre Meinungen ablehnt, sondern allein schon ihr Vorhandensein als eine nationale Schande betrachtet.