Süddeutsche Zeitung,12.10.2000

Nachlassende Gewalt in den Palästinensergebieten

Verhandeln in der Feuerpause UN-Generalsekretär

Annan traf sich erneut zu getrennten Gesprächen mit Israels Premier Barak und Palästinenserchef Arafat / Von Thorsten Schmitz

Jerusalem - Israels Premierminister Ehud Barak ist am Mittwoch überraschend erneut mit UN-Generalsekretär Kofi Annan zusammengetroffen. An den Vermittlungen waren auch der außenpolitische Koordinator der EU, Javier Solana, der britische Außenminister Robin Cook und der russische Außenminister Igor Iwanow beteiligt. Annan dehnte seine getrennten Gespräche mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak und Palästinenser-Präsident Jassir Arafat auf eine zweite Runde aus und verschob deshalb seinen Besuch im Libanon auf Donnerstag. In Beirut will sich Annan für die Freilassung der drei von libanesischen Hisbollah-Milizen entführten israelischen Soldaten einsetzen. Ein Sprecher der Hisbollah erklärte, falls Annan mit "akzeptablen Vorschlägen" nach Beirut komme, werde man seine Vermittlungsbemühungen akzeptieren. Die Hisbollah verlangt im Austausch für die israelischen Soldaten die Freilassung von 19 Libanesen, die in israelischen Gefängnissen sitzen.

Während die diplomatischen Bemühungen um eine Verhandlungslösung intensiviert wurden, ist die Gewalt in den Palästinensergebieten nur leicht zurückgegangen. In der Stadt Tulkarem wurde am Nachmittag ein 17-jähriger Araber von israelischen Soldaten erschossen. Ein 18-jähriger Palästinenser starb in der Stadt Chan Junis im Gazastreifen. In Nablus kam es während der Beerdigung eines am Wochenende von palästinensischen Extremisten erschossenen jüdischen Rabbiners zu Schießereien zwischen jüdischen Siedlern und palästinensischen Demonstranten. Sowohl in Jerusalem als auch in der vorwiegend von Arabern bewohnten israelischen Hafenstadt Akko kam es in der Nacht zuvor erneut zu gewalttätigen Übergriffen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Bei den Unruhen wurden bislang mindestens 97 Menschen getötet und weit über 2000 verletzt. Ein zwölf Jahre alter palästinensischer Junge erlag am Mittwoch den Schusswunden, die ihm israelische Soldaten am Kopf zugefügt hatten.

Nach Angaben des israelischen Generalstabschefs Schaul Mofaz hat Arafat seine Anhänger angewiesen, ihre Gewalt gegen israelische Soldaten "bedeutend " abzuschwächen. Mofaz sagte, die Gewalt könne jedoch "jederzeit" wieder aufflammen. Für den kommenden Freitag riefen Palästinenser erneut zu großen Demonstrationen nach den traditionellen Freitagsgebeten auf. Vergangene Woche war es danach in Jerusalems Altstadt, im Westjordanland und Gaza zu blutigen Zusammenstößen gekommen.

US-Präsident Bill Clinton hat erneut angeboten, sich mit Jassir Arafat und Ehud Barak in Ägypten zu treffen. Ägyptens Informationsminister Safwat el Scherif erklärte, Ägypten sei zu einem Treffen bereit - allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Die Spannung zwischen Palästinensern und Israel müsse abgebaut werden. Dazu gehöre ein Abzug aller israelischer Truppen aus den Palästinensergebieten. Ägypten fordert auch eine Untersuchung der Ursachen und des Verlaufes der Unruhen in den israelisch besetzten Palästinensergebieten. Eine Vereinbarung darüber könnte nach Meinung der beteiligten Vermittler die Verhandlungen über einen Friedensvertrag und einen Palästinenser-Staat wieder in Gang bringen. Die Standpunkte Israels und der Palästinenser lägen nicht mehr weit auseinander.

In Israel sagte Parlamentssprecher Avraham Burg eine Sondersitzung zur Auflösung der Knesset ab, da er eine "Aufheizung" durch agitatorische Reden zu den Unruhen vermeiden wolle. Der Likud-Oppositionschef Ariel Scharon, dessen Stippvisite auf die Tempelberg-Esplanade am 28. September die Unruhen ausgelöst hatte, forderte Neuwahlen, sicherte aber Regierungschef Ehud Barak in diesen Tagen auch die Unterstützung seiner Partei zu.