Neue Zürcher Zeitung (CH), 10. Oktober 2000, Nr.236, Seite 2

Straffere Umsetzung der Urteile Strassburgs

Der Menschenrechts-Gerichtshof leidet unter Geldmangel

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat vor kurzem angeregt, Sanktionen gegen Mitgliedstaaten zu verhängen, die sich weigern, Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Das individuelle Klagerecht aller Bürger und die Akzeptanz der Urteile durch die Mitgliedstaaten drohten sonst ihre Wirksamkeit zu verlieren.

uth. Strassburg, Ende September

Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist es dem Europarat gelungen, in Europa in fünf Jahrzehnten einen einzigartigen Mechanismus zur Wahrung der Grund- und Menschenrechte zu entwickeln und damit zur Erreichung eines einheitlichen Schutzniveaus beizutragen. Dessen dauerhafte Wirksamkeit hängt vor allem davon ab, dass die Mitgliedstaaten bei nachgewiesenen Verletzungen dieser Rechte die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg umsetzen, sei es durch Wiedergutmachung gegenüber den betroffenen Personen oder durch Änderung ihrer nationalen Gesetzgebung. Mit dem starken Anwachsen der Zahl der Klagen aber sind in den letzten Jahren auch ernsthafte Fälle aufgetaucht, in denen Staaten nicht nur den Vollzug der Richtersprüche hinauszögern, sondern sich in Einzelfällen ausdrücklich weigern, bestimmte Urteile umzusetzen.

Die krassesten Beispiele sind die Fälle Loizidou gegen die Türkei und Hakkar gegen Frankreich. So hatte die türkische Regierung eine Entschädigungszahlung an einen Zyprioten griechischen Ursprungs verweigert, der nach der Besetzung Nordzyperns durch die Türkei sein Eigentum in diesem Teil der Insel verloren hatte. Als Begründung wurde angeführt, dass eine solche Entschädigung nur im Rahmen einer globalen Regelung aller offenen Eigentumsfragen auf Zypern geleistet werden könne. Im Fall Hakkar war der Angeklagte ohne Rechtsbeistand zu lebenslanger Haft verurteilt worden, was einen Verstoss gegen die Europaratskonvention darstellte. Frankreich weigerte sich mit Verweis auf Unvereinbarkeit mit der damaligen Gesetzgebung, dem Urteil des Gerichtshofes zu folgen, das verlangt hatte, ein neues Verfahren zu eröffnen und den Angeklagten so lange freizulassen. Anschliessend wurde zwar das französische Recht für zukünftige Fälle geändert, der Fall Hakkar aber weiter als abgeschlossen betrachtet. Erst auf Druck des Ministerkomitees prüft nun eine Kommission ein Wiederaufnahmeverfahren.

Da die Parlamentarische Versammlung des Europarats diese und andere weniger gravierende Fälle als ausserordentlich besorgniserregend für die unmittelbare Rechtswirksamkeit der Urteile betrachtet, verabschiedete sie wie kurz gemeldet vor kurzem eine Entschliessung, um der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofes noch mehr und schnellere Geltung zu verschaffen. So soll die EMRK mit dem Ziel geändert werden, ein System von Verzugsstrafen gegen solche Mitgliedstaaten einzuführen, die sich beharrlich weigern, ein Urteil des Gerichtshofs umzusetzen. Zugleich soll sich das Ministerkomitee in allen Fällen vergewissern, dass die von den Staaten ergriffenen Massnahmen künftig weitere Verletzungen wirksam verhindern. Darüber hinaus sollen die Parlamentarier regelmässig über den Stand der Umsetzung der Urteile unterrichtet werden. Die Mitgliedstaaten selbst sollen klare Vorkehrungen treffen, damit Urteile unmittelbare Rechtswirksamkeit erhalten, damit sie von den nationalen Gerichten angewendet werden können.

Der Berichterstatter des Rechtsausschusses über die Ausführung der Urteile, der niederländische Sozialdemokrat Erik Jurgens, wies darauf hin, dass mangelnde Ausführung in den Einzelstaaten auch mit unklaren Urteilen zusammenhängen kann. Manchmal sei nicht klar genug erkennbar, auf welche Weise sie vollstreckt werden sollen, ob eine Entschädigung des Beschwerdeführers genüge oder aber Gesetzesänderungen notwendig seien. Auf diesem Gebiet könnten die Richter selbst für grössere Klarheit sorgen.

Der Präsident des Gerichtshofs, der Schweizer Luzius Wildhaber, forderte die Staaten ebenfalls dazu auf, zu gewährleisten, dass die Urteile vollstreckt werden. Dies gelinge zwar bei den meisten Urteilen, es sollte aber möglichst keine Ausnahmen geben. Der Gerichtshof hat dafür eigens eine Arbeitsgruppe geschaffen, die für die Überwachung der Ausführung der Urteile zuständig ist. Ausserdem appellierte der Präsident an die 41 Mitgliedstaaten des Europarats, dem Gerichtshof mehr Finanzmittel für seine Arbeit bereitzustellen. In einer Feierstunde zum Inkrafttreten der EMRK vor 50 Jahren begründete Wildhaber dies damit, dass die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs in den letzten sieben Jahren um 500 Prozent zugenommen habe. Das vor zwei Jahren reformierte System stehe unter Druck. Da eine Abnahme der Klagen nicht abzusehen sei, drohe eine weitere Anhäufung nicht erledigter Fälle.

Seit 1950 garantiert die EMRK allen Bürgern, die ihre Grundrechte verletzt sehen, eine Klage vor dem Menschenrechtsgerichtshof. Diese Chance, doch noch Recht auch gegenüber dem eigenen Staat zu erhalten, wenn auf nationale Ebene der Rechtsweg schon ausgeschöpft ist, haben seit 1950 mehr als 45 000 Bürger in Europa genutzt.