Tagblatt (CH), 07.10.2000

Ein Onkel, sein Neffe und eine Bank

Zwei Demirels machen derzeit in der Türkei von sich reden. Da ist zum einen der 76-jährige Süleyman Demirel, jener rundliche Politiker, der die vergangenen sieben Jahre Präsident und davor unzählige Male Regierungschef war. Er hat die Karikaturisten nach seinem Amtsende im Mai Lügen gestraft, denn er hat weder ein Hutgeschäft in Ankara aufgemacht, noch sich als erfahrener Schafshirte in Anatolien niedergelassen. Stattdessen versucht er mit einem strikten Diätplan auf 100 kg abzuspecken. Die Zeitungen vermelden regelmässig das erreichte Etappenziel. Ausserdem möchte er irgendwie und irgendwann wieder in die Politik zurückkehren, denn in seinem Alter fühlt er sich noch lange nicht reif für die Pension. Der andere ist der 33-jährige Murat Demirel, sein Neffe, von dem Süleyman heute am liebsten nichts hören möchte und meint, dass man sich seine Verwandten eben nicht aussuchen könne. Sein Fall liegt vor dem Staatssicherheitsgericht Nummer eins in Ankara.

In nächtlicher «Arbeit»

Murat besass eine Bank, die Egebank, mit ihren 100 Filialen nicht einmal klein. Doch Murat besass die Bank nur knapp zwei Jahre. Denn am 19. Dezember 1999 beschloss das Kabinett, die Bank unter staatliche Aufsicht zu stellen. An eben diesem Tag kehrte Murat von einer Reise nach Österreich zurück. Am folgenden Tag, einem Montag, geschah nichts. Am 21. dann wurde der Beschluss des Kabinetts, die Bank unter Aufsicht zu stellen, dem anderen Demirel, Süleyman, zur Unterschrift vorgelegt. Und am Abend dieses Tages fährt Murat mit einem Lastwagen vor der Bank vor und verlädt Geldsäcke. In sechs Stunden «harter Arbeit» leert er die Tresore, bis vier Uhr morgens. Wenige Stunden später tritt die von Süleyman unterschriebene Verordnung in Kraft - und Murat beschwert sich in einem Anruf bei der Zeitung «Hürriyet», angeblich aus Wien, über die schreiende Ungerechtigkeit. Nur: Er hatte nicht daran gedacht, die Überwachungskameras in der Bank auszuschalten. Bankenskandale sind in der Türkei keine Seltenheit. Murat Demirel wird heute beschuldigt, Millionen Dollar seiner Kunden veruntreut und auf ein Konto in New York verschoben zu haben.

Wer gab den Tipp?

Und was hat das alles eigentlich mit Süleyman zu tun? Über den Kabinettsbeschluss waren nur wenige Eingeweihte informiert, unter ihnen natürlich der Präsident. Hatte etwa er seinen Neffen über den Zugriff des Staats informiert? Denn eines ist klar: Ohne einen Tipp hätte Murat die Tresore nicht wie ein Dieb des Nachts geleert. Jetzt rätseln alle in der Türkei.

Jan Keetman