Süddeutsche Zeitung, 07.10.2000

Unruhen am "Tag des Zorns"

Fünf Tote bei Ausschreitungen im Nahen Osten

Mehrere tausend Palästinenser liefern sich in Jerusalem nach dem Freitagsgebet Kämpfe mit israelischen Soldaten / Von Thorsten Schmitz

Jerusalem - Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern sind trotz eines mündlich vereinbarten Waffenstillstands fortgesetzt worden. Mehrere tausend Palästinenser lieferten sich auf dem Tempelberg in Jerusalems Altstadt nach dem traditionellen Freitagsgebet in der Al-Aksa-Moschee Straßenschlachten mit israelischen Soldaten. Dabei wurde ein Palästinenser getötet, mindestens 40 Menschen wurden verletzt. Bei Zusammenstößen im Westjordanland und Gaza wurden am Nachmittag vier Palästinenser erschossen. Die Zahl der Todesopfer bei den Unruhen liegt inzwischen bei mindestens 73, die der Verletzten bei 1900. Die radikal-islamische Hamas hatte zum gestrigen "Tag des Zorns" aufgerufen.

Bei den Zusammenstößen in Jerusalem warfen Palästinenser auch Steine auf betende Juden an der Klagemauer und setzten eine israelische Polizeistation nahe des Löwentors im arabischen Ostteil in Brand. Die israelische Polizei hatte sich kurz nach den Gebeten zunächst fast vollständig vom Tempelberg zurückgezogen und ihre Präsenz auf dem Platz vor der Klagemauer verringert. Die Kämpfe weiteten sich am Nachmittag bis in die palästinensischen Gebiete Westbank und Gaza aus, die auf Anordnung von Premier Ehud Barak bis zum Ende des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur am kommenden Montagabend abgeriegelt worden waren. In Gaza-Stadt demonstrierten 40 000 Palästinenser zunächst friedlich und attackierten anschließend an der Netzarim-Kreuzung israelische Soldaten. Diese schossen mit schwerer Munition zurück. Aus den Westbank-Städten Nablus, Ramallah und Hebron wurden wie in den Tagen zuvor Kämpfe gemeldet mit weit über 50 Verletzten.

Israels Premierminister äußerte sich nach dem gescheiterten Treffen mit Palästinenser-Präsident Jassir Arafat in Paris pessimistisch über eine Friedensregelung. "Ich glaube, wir haben in Arafat keinen Partner für Frieden", sagte Barak in Tel Aviv. Der Regierungschef warf dem französischen Präsidenten Jacques Chirac zudem Mitverantwortung am Scheitern vor. Dieser habe Arafat "überredet", das Waffenstillstandsabkommen nicht zu unterzeichnen, da es nicht die Forderung nach einer Kommission zur Untersuchung der jüngsten Unruhen enthielt. Arafat habe sich daraufhin geweigert, zu unterschreiben. Aus diesem Grund habe er, Barak, auch nicht an der Fortsetzung des Treffens im ägyptischen Scharm el-Scheich teilgenommen. (Die SZ hatte wegen eines Übermittlungsfehlers gestern irrtümlich gemeldet, Barak habe dieser Kommission zugestimmt.) Dessen ungeachtet sagte der Premier, er werde in den vier kommenden Wochen versuchen, ein Friedensabkommen mit Arafat zu erreichen. Arafat hatte in Gaza erklärt, er "hoffe", dass die Tür zu Gesprächen geöffnet bleibe.

US-Präsident Bill Clinton lud die Unterhändler beider Seiten für kommenden Dienstag nach Washington ein, um die Friedensgespräche fortzusetzen. Clinton appellierte an Israel und die Palästinenser, die Gewalt einzustellen.