taz 5.10.2000

Armenier-Mord war Genozid

Türkische Regierung empört sich über ein entsprechendes Votum im US-Kongress und droht deshalb mit der Schließung des Militärflughafens Incirlik an der Grenze zum Irak

ISTANBUL taz "Der befürchtete Skandal ist geschehen", titelte gestern die türkische Zeitung Milliyet als Kommentar zu einer Entscheidung des US-Repräsentantenhauses. Dessen Ausschuss für internationale Beziehungen hatte für einen Gesetzentwurf votiert, mit dem der Mord an und die Vertreibung der armenischen Minderheit offiziell zum Völkermord erklärt wird.

Der türkische Außenminister Ismael Cem bedauerte diese Entscheidung und warnte vor einer ersthaften Verschlechterung der türkischen Beziehungen zu den USA, sollte das Repräsentantenhaus das Votum des Ausschusses bestätigen.

Der Völkermord an der armenischen Minderheit während des Ersten Weltkrieges gehört zu den letzten Tabuthemen des türkischen Staates. Historikern zufolge kamen bei der Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus dem heutigen Osten der Türkei und ihrer Deportation in die syrische Wüste rund eine Million Menschen ums Leben. Heute leben noch 80.000 Armenier in der Türkei, vor allem im Großraum Istanbul. Die offizielle türkische Position ist dagegen, es habe sich dabei um eine kriegsbedingte Maßnahme als Reaktion auf armenische Aufstände gehandelt, bei denen genauso viele Türken wie Armenier umgekommen seien.

Der Gesetzentwurf wird von der großen armenischen Gemeinde in den USA und von den Republikanern unterstützt, die sich davon die Stimmen armenischstämmiger Wähler bei den bevorstehenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen erhoffen.

Sprecher der in der Türkei lebenden Armenier sagten dazu, Türken und Armenier sollten endlich direkt miteinander darüber reden, was 1915 passiert ist, und das nicht über den amerikanischen Kongress tun. Die Mehrheit der türkischen Politiker zeigt jedoch wenig Dialogbereitschaft. So wird in Ankara überlegt, als Warnung an die USA zunächst für drei Monate wieder einen Botschafter nach Bagdad zu schicken und, falls das nicht reicht, der US-Luftwaffe den Stützpunkt Incirlik zu sperren, von wo aus die USA den irakischen Luftraum kontrollieren.

JÜRGEN GOTTSCHLICH