Neue Zürcher Zeitung (CH), 6. Oktober 2000

Arabische Strassenproteste - zunehmend militante Rhetorik

Ratschläge Saddams und Nasrallahs an die Palästinenser

Das Echo einer Woche der blutigen Unterdrückung der Palästinenser macht sich in zahlreichen arabischen Ländern und in zunehmend militanten Tönen bemerkbar. Auch die grossen Gruppierungen Cisjordaniens und des Gazastreifens fordern eine Fortsetzung der Proteste. Die Erhebung wird mittlerweile als Aksa-Intifada bezeichnet.

vk. Limassol, 5. Oktober

Nach einer Woche der blutigen Unterdrückung palästinensischer Proteste gegen die israelische Besetzung ist ein zorniges arabisches Echo laut geworden. Der Aufstand der Palästinenser wird in der arabischen Welt bereits als Aksa-Intifada bezeichnet. In ägyptischen Universitäten marschierten die Studenten zu Solidaritätskundgebungen für die Palästinenser auf. In der jordanischen Hauptstadt Amman und anderen Städten organisierten schon den fünften Tag Gewerkschaften, Berufsverbände und Studentengruppen Massenproteste, wie sie seit den Brotunruhen von 1994 nicht mehr da gewesen waren. Besonders zum Schutz der israelischen Botschaft griff die Polizei mit Spezialeinheiten massiv durch. König Abdallah hielt es für angezeigt, zugunsten palästinensischer Opfer Blut zu spenden. Auch in Damaskus gingen mehrere tausend Personen für die Palästinenser auf die Strasse und zogen gegen die amerikanische Botschaft. In Sanaa anerboten sich Hunderte von Jemeniten als Freiwillige für den Kampf gegen Israel. In Maskat forderten die Studenten die Schliessung der israelischen Handelsvertretung. Und der iranische Revolutionsführer Khamenei rief alle Regierungen islamischer Staaten dazu auf, zum Jihad zu mobilisieren.

«Gebt mir eine Basis in der Nähe Israels»
Die irakische Führung beliess es nicht bei der Organisation von Volkskundgebungen. Präsident Saddam Hussein suchte auf den Wellen des Volkszorns zu neuen Höhen empor zu reiten. Vor einer Versammlung von Hochschullehrern geisselte er am Mittwoch die arabischen Führer für ihre unnütze verbale Empörung über die Palästinensermassaker. Dann rief er nach einem 24-stündigen Ultimatum, damit Israel seine Gewaltanwendung einstelle. Und wenn die arabischen Führer nicht fähig seien, den Zionismus in die Schranken zu weisen, so sei der Irak bereit dazu. «Alles, was die Araber tun sollen», führte er vor den erstaunten Professoren aus, «ist, uns einen Platz unweit von Israel anzuweisen und uns den Rücken zu stärken. Dann werden sie rasch sehen, wie der Zionismus zu Ende geht.» Im Vorfeld der Kuwait-Krise von 1990 hatte Saddam gedroht, er werde halb Israel verbrennen. Später feuerte er unter dem Applaus vieler Palästinenser Scud-Mittelstreckenraketen auf den jüdischen Staat.

Kritik an Arafat
Eine eher ernst zu nehmende Initiative lancierte der Hizbullah-Generalsekretär Nasrallah, der Sieger des zähen Widerstandskampfs gegen die israelischen Besetzer Südlibanons. Er empfahl den Palästinensern, ihren Aufstand (Intifada) zum bewaffneten Widerstandskampf auszubauen. Der Geistliche wandte in seiner Ansprache an einer Solidaritätskundgebung in Beirut die kalte, aber zündende Logik eines im Feuer geprüften Feldherrn an. Er predigte sinngemäss: Anstatt euch von den Israeli ohne Gegenwehr totschiessen zu lassen, wie ihr das heute tut, müsstet ihr sie immerhin zuerst angreifen und zu töten suchen. Die Strategie müsse die gleiche sein wie in Südlibanon, nämlich den Israeli jedes Gefühl der Sicherheit in ihren befestigten Stützpunkten und in ihren Siedlungen zu rauben. Das liege durchaus im Bereich der Möglichkeiten. Der Hizbullah sei bereit, solche Anstrengungen zu unterstützen, doch könne er nicht anstelle der Palästinenser ein Vorgehen planen. Islamische Palästinensergruppen in Libanon arbeiteten seit Jahren mit dem Hizbullah im Widerstandskampf zusammen, eine Kooperation über die durch Israel überwachten Grenzen der Autonomiegebiete hinweg dürfte sich jedoch viel schwieriger gestalten. Die Palästinenser in Arafats Machtbereich sind nach dem Verlust von bald siebzig Menschenleben unter dem israelischen Kugelhagel nicht mehr versöhnlich gestimmt. Aus mehreren Ecken kritisierten sie Arafats Versuch, in Paris und Sharm ash-Sheikh mittels Diplomatie ein Ende der Gewalt zu erreichen. Arafat habe gänzlich die Fühlung mit der Basis verloren, welche ihre Militanz nicht erneut gegen faule Kompromisse eintauschen wolle, lautet der Vorwurf. Die seit Jahren gehegte Überzeugung der Opposition von der Aussichtslosigkeit der Osloer Verhandlungen kam etwa in einem Kommentar des Blattes «al-Kuds al-Arabi» zum Ausdruck: «Die Intifada ist ausgebrochen, und jetzt muss sie so lange weitergehen, bis ein Palästinenserstaat mit ganz Ostjerusalem als Hauptstadt entstanden ist.» Am Mittwoch unterzeichnete ein Querschnitt von Anhängern so gut wie Gegnern Arafats eine Willenserklärung, nach der die «segensreiche Intifada» weitergehen und verstärkt werden müsse. Darin trafen sich Exponenten der «herrschenden Partei», Fatah, und ihres Verbündeten Fida mit den Islamistengruppen Hamas und Jihad sowie der Volksfront PFLP. Diese Leute haben, nötigenfalls auch entgegen den Weisungen Arafats, die Mittel zur Fortführung der Widerstandsaktionen gegen die israelische Besetzung.

Hamas-Mitglieder aus der Haft entlassen
Gaza, 5. Okt. (dpa) Die palästinensische Polizei hat zwölf Mitglieder der Hamas aus der Haft entlassen. Dies teilte der Hamas-Führer Abu Shanab in der Nacht zum Donnerstag in Gaza mit. Die Männer hätten sofort nach ihrer Entlassung ihren geistigen Führer, Scheich Ahmad Yassin, besucht, hiess es. Beobachter in den Palästinensergebieten werteten die Entlassung der Hamas-Mitglieder als Schritt zur nationalen Einheit auf der palästinensischen Seite und als Botschaft an Israel.