junge Welt, 05.10.2000

Syriens Intellektuelle begehren auf

»Manifest der 99« für mehr Demokratie veröffentlicht

In einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Manifest haben 99 syrische Intellektuelle die Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustandes und demokratische Reformen gefordert. Unter den Unterzeichnern sind prominente, auch im Ausland bekannte Persönlichkeiten wie der Lyriker Adonis, der Romancier Abdarahman Munif und der Philosoph Sadik Jalal Al-Azm.

Bereits mehrfach hatten in den vergangenen Monaten prominente Intellektuelle Präsident Bashar Al-Assad in offenen Briefen zu solchen Schritten aufgefordert. Im Gegensatz dazu und offenbar in Reaktion auf zunehmende Zweifel darüber, wer hinter den Kulissen des Damaszener Regimes tatsächlich die Entscheidungsgewalt ausübt, ist das »Manifest der 99« nun allgemein an »die Machthaber« gerichtet.

In ihren Forderungen distanzieren sich die Unterzeichner vom »selektiven Umgang« mit Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten, wie ihn die Großmächte ausübten, betonen aber die Notwendigkeit, die seit dem Frühjahr eingeleiteten wirtschaftlichen und administrativen Reformen durch politische zu begleiten. »Kulturelle Besonderheiten«, wie sie Präsident Assad in seiner Rede zum Amtsantritt gegen die Übernahme westlicher Demokratiekonzepte ins Feld geführt hatte, könnten nicht die Abschottung vom Rest der Welt rechtfertigen.

Weiter wird eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und Verfolgten, die Erlaubnis zur Rückkehr aller Exilierten sowie die Gewährung bürgerlicher Freiheiten und die Abschaffung von Zensur und geheimdienstlicher Überwachung gefordert.

Reaktionen von Regierungsseite sind nach Auskunft der Autoren des Manifests bislang ausgeblieben. Zuletzt Mitte August war der renommierte Intellektuelle Antoine Makdessi nach Veröffentlichung eines inhaltlich ähnlichen offenen Briefes aus seiner Position im Kulturministerium gefeuert worden. Sämtliche Unterzeichner des Manifests leben entweder dauerhaft in Syrien oder halten sich regelmäßig dort auf.

Heiko Wimmen, Damaskus