Neue Zürcher Zeitung(CH), 05.10.2000

Armenier-Vertreibung als Tabu in der Türkei

Resolution eines Komitees im amerikanischen Kongress

Die türkische Regierung hat mit Konsternation auf die Resolution eines Komitees im amerikanischen Repräsentantenhaus reagiert, welche die Vertreibung der Armenier aus Anatolien im Ersten Weltkrieg als Genozid qualifiziert. Ankara wittert dahinter eine armenische Verleumdungskampagne und droht mit Massnahmen gegen die USA.

it. Istanbul, 4. Oktober

Das Komitee für internationale Beziehungen im amerikanischen Repräsentantenhaus hat am späten Dienstagabend mit grosser Mehrheit eine Resolution akzeptiert, welche dem Osmanischen Reich einen Genozid an den Armeniern vorwirft. In der Resolution ist von einer systematischen und vorsätzlichen Vernichtung von 1,5 Millionen Armeniern durch die Truppen des Osmanischen Reichs die Rede. Dem Entscheid vorausgegangen waren Warnungen der Türkei und Bedenken der amerikanischen Regierung, die im Falle einer Annahme eine Krise in den gegenseitigen Beziehungen befürchteten. Die Resolution ist nicht bindend und hat daher nur symbolische Bedeutung. Dass aber laut Resolutionstext der amerikanische Präsident dazu angehalten ist, die Vernichtung der Armenier als Völkermord zu bezeichnen, hat in Ankara Konsternation ausgelöst. Am Mittwoch waren Medien und Politiker weitgehend sprachlos. Die Regierung hielt sich mit Erklärungen zurück. Aussenminister Cem stellte lediglich fest, die Warnungen der Türkei seien offenbar nicht ernst genommen worden.

Verletzte Ehre

Die türkische Staatsführung hatte im Falle einer Annahme der Resolution in ungewöhnlich scharfem Ton Washington vor schweren politischen Folgen für die gesamte Region gewarnt. Der Generalstabschef Kivrikoglu, der normalerweise mit Kritik gegen die USA zurückhaltend ist, griff vorige Woche Washington scharf an. Bevor ein Land einem anderen Massenmord vorwerfe, sollte es die eigenen dunklen Kapitel seiner Geschichte beleuchten, sagte der General. Der Hinweis auf das Schicksal der Indianer war unmissverständlich. In dieselbe Kerbe schlug kurz darauf auch Präsident Sezer, der sich in seiner kurzen Amtsperiode als Verfechter liberaler Reformen bereits einen Namen gemacht hat. Die Türkei werde nicht zulassen, dass die Geschichte gefälscht und die türkische Nation in den Schmutz gezogen werde, sagte er am Wochenende vor dem Parlament. Die Regierung Ecevit versprach, «die notwendigen Massnahmen gegen diese politisch motivierte Verleumdungskampagne zu treffen».

An welche Massnahmen die Regierung in Ankara dachte, offenbarte der türkische Botschafter Atkan, der den amerikanischen Kongress über die Stellungnahme der Türkei in dieser Frage informiert hatte. Demnach soll als Erstes der türkische Luftkorridor, über den humanitäre Hilfsgüter Armenien erreichen, geschlossen werden. Weil Armenien aus der Sicht Ankaras die «hasserfüllte Resolution» initiiert habe, wird ferner laut Atkan auch der kleine, teilweise illegale Grenzhandel mit Armenien eingestellt. Der Zugang Armeniens zum Westen soll also abgeschnitten werden. Aber auch Washington soll büssen. Laut Atkan könnte die Türkei die Benutzungsbewilligung des Nato-Luftwaffenstützpunkts Incirlik, von dem aus britische und amerikanische Kampfflugzeuge zu Kontrollflügen über dem Nordirak starten, einschränken und die Wiederaufnahme von vollen diplomatischen Beziehungen mit dem Irak erwägen. Ankara könnte auch die Pläne zur Durchleitung von kaspischem Erdöl und Erdgas verhindern, warnte Atkan. Die türkischen Generäle sprachen von einer Stornierung von Waffenkäufen in den USA. Letzte Woche hatte die amerikanische Aussenministerin Albright mit Besorgnis von den Drohungen Kenntnis genommen und die Kongress-Kommission dazu aufgefordert, die Resolution nicht anzunehmen.

Dunkles Kapitel der Geschichte

Ankara sei dazu imstande, alle seine aussenpolitischen Karten zu verspielen, um die Bezeichnung «Genozid an den Armeniern» zu verhindern, wunderte sich das Politmagazin «Briefing». Die blutigen Ereignisse in der Heimat der Armenier zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sind in der Türkei nach wie vor ein Tabu. Was sich zwischen 1915 und 1923 im Osten des auseinander brechenden Osmanischen Reichs tatsächlich ereignet hatte, lässt sich heute nur schwer rekons- truieren. Laut armenischer Geschichtsschreibung sind damals 1,5 Millionen Armenier von den osmanischen Truppen aus ihrer Heimat mit Gewalt vertrieben worden. Als ethnische Gruppe existieren sie in der Region seither nicht mehr. Die Armenier sprechen deshalb von Völkermord. Die Türkei verwehrt sich vehement gegen diese Sichtweise. In ihrem Verständnis haben sich in den Wirren des Ersten Weltkriegs in der Region Gewalttaten ereignet, denen sowohl Armenier als auch Türken zum Opfer fielen. Einen Genozid habe es in Anatolien nie gegeben, wiederholte auch Präsident Sezer vor der türkischen Öffentlichkeit. Dass im ehemals riesigen Wohngebiet der Armenier, welches sich von den Ufern des Schwarzen Meeres entlang der irakisch-iranischen Grenze bis zum Mittelmeer erstreckte, nur ein einziges kleines armenisches Dorf die Kriegswirren überlebt hat, wird hierzulande nicht als Beweis für die Richtigkeit der These des Völkermords akzeptiert.

Ankara möchte am liebsten einen Schlussstrich ziehen und fordert daher eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Ereignisse. Eine solche Erforschung war bisher deshalb nicht möglich, weil die Türkei unabhängigen Wissenschaftern zu den osmanischen Archiven keinen Zutritt gewährt hatte. Türkische Intellektuelle fragen sich nun, ob Ankaras Aufruf an die Historiker nach der Resolution nicht etwas spät komme. Die wochenlangen Warnungen der türkischen Staatsführung haben die Regierung in Zugzwang versetzt.