Die Zeit 05.10.00

Wer nicht zu Europa gehört

Türkei, Russland, Ukraine, Weißrussland: Sie alle sind große Nationen und wichtige Partner der EU. Aber keine geeigneten Kandidaten für die Erweiterung. Ein Auszug aus neuem Buch über die Zukunft der Union

Von Helmut Schmidt
Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat zu Beginn des neuen Jahrhunderts den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vorgeschlagen, eine Debatte über die Grenzen Europas zu beginnen. Jacques Delors hat dazu bemerkt, eine solche Debatte sei gefährlich, ihr Ende nicht absehbar. Statt dessen seien ganz andere Fragen vordringlich, nämlich: Was können, was wollen wir zusammen tun? Wollen die Europäer eine Rolle in der Geschichte spielen oder nicht? Wie muß die EU der Fünfzehn umgestaltet werden? Diese Fragen sind berechtigt. Antworten der Staats- und Regierungschefs sind unter der unendlichen Flut von Absichtserklärungen und Papieren vorerst jedoch nicht zu erkennen. Delors hat deshalb schon vor langem vor einer übereilten Erweiterung der EU gewarnt und die Mahnung hinzugefügt, die Erweiterung müsse unter geopolitischem Aspekt erfolgen. In der Frage nach den geopolitischen Kriterien taucht die Frage nach den zukünftigen Grenzen der Union freilich wieder auf.

Mich hat der Disput an die Zeiten von Charles de Gaulle erinnert. Einmal hat er vom "Europa vom Atlantik bis zum Ural" gesprochen; das war Schulbuch-Geographie, politisch ergab das Wort keinen Sinn, denn es teilte Rußland - damals die Sowjetunion - in zwei Teile. Aber de Gaulle hat auch vom "Europa der Vaterländer" gesprochen. Dieses Wort hat mir damals gefallen. Es gefällt mir heute noch. Denn ich glaube, daß wir Europäer noch sehr lange unser jeweiliges Vaterland brauchen und daß wir deshalb noch sehr lange am Prinzip des Nationalstaates festhalten werden. Wir brauchen innerhalb der Europäischen Union unseren Nationalstaat. Ist es aber nicht auch an der Zeit, neben unserer jeweiligen nationalen Identität eine gemeinsame europäische Identität zu definieren und sie in unser Bewußtsein aufzunehmen?

Tatsächlich gibt es seit langem eine sehr weit reichende gemeinsame Identität. Sie ist für Menschen aus anderen Erdteilen oftmals allerdings leichter zu erkennen als für uns Europäer selbst. Sie bezieht sich zunächst auf die Kultur im engeren Sinne: Religion, Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Architektur, Malerei. Sodann umfaßt sie die politische Kultur, basierend auf den Idealen der Würde und der Freiheit der Person sowie gleicher Grundrechte. Es ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des Rechtsstaates mit geordnetem privaten und öffentlichen Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher Macht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrtsstaates und des Willens zu sozialer Gerechtigkeit. Die gemeinsame Identität umschließt die wirtschaftliche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmers oder Kaufmanns, des freien Marktes, der freien Gewerkschaften, des zuverlässigen Geldwertes - und des gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Arbeitnehmer durch Arbeitgeber und der Verbraucher durch Kartelle oder Monopole.

Ohne mich auf das Terrain der Geschichtsphilosophie wagen zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, daß die kulturelle Gemeinsamkeit der Europäer auch gemeinsame Irrtümer und Sünden einschließt. Wir verdrängen gern einige sehr unerfreuliche Tatsachen. Zum Beispiel die Tatsache, daß der Aufklärung Jahrhunderte der gewalttätigen Kreuzzüge vorangegangen sind, Inquisition, Verbrennungen von sogenannten Ketzern und angeblichen Hexen, Folterungen, antisemitische Pogrome und andere gemeineuropäische Scheußlichkeiten. Dieser Negativ-Liste steht freilich eine sehr viel längere Positiv-Liste gegenüber. Auf ihr finden sich die gemeinsamen griechischen, römischen und christlichen Elemente unserer Kultur, die wir im Laufe von über eintausend Jahren schrittweise verinnerlicht haben, einschließlich des lateinischen Alphabets und seiner Buchstabensymbole. Dazu gehören die seit dem Hochmittelalter über ganz Europa sich ausbreitende Institution der Universität und, seit gut zwei Jahrhunderten, die allgemeine Schule für jedermann. Vor allem aber der allgemeine Wille, voneinander zu lernen. Tatsächlich hat es in keinem anderen Erdteil jemals ein so hohes Maß an gegenseitiger Beeinflussung und Befruchtung zwischen Völkern sehr verschiedenen Ursprungs und sehr verschiedener Sprachen gegeben. Es wäre zu wünschen, daß wir - dem Appell Fritz Sterns folgend - endlich von einer im wesentlichen nationalen Geschichtsschreibung wegkommen und zu einer gemeinsamen europäischen Geschichtsschreibung gelangen. Sie sollte sich nicht mit der Ereignisgeschichte begnügen, sondern ebenso die gemeinsame Evolution der Kultur anschaulich machen. Dann wird sich zeigen: Die Europäische Union ist zwar durchaus eine "Rechtsgemeinschaft", wie heute vielfach gesagt wird. Aber sie reicht viel weiter.

Die gemeinsame kulturelle Entwicklung hat einige Völker und Staaten des Kontinents allerdings weniger berührt und erfaßt als andere. Die heutigen fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU gehören zu der großen Mehrheit jener Nationen, die von der europäischen Kultur geprägt sind. Nicht unbedingt dazu gehört jeder der Staaten, die auf der Liste der Kandidaten zur Aufnahme in die Europäische Union stehen. Auch wenn sie sich später, infolge ihrer eigenen inneren Entwicklung, möglicherweise in die europäische Kultur integrieren, so ergeben sich hieraus doch einige Antworten auf die Frage nach "den Grenzen Europas", die für die Gegenwart jedenfalls ausreichen. Über die Zugehörigkeit der Polen, der Ungarn und der Tschechen zur gemeineuropäischen Kultur kann es keinen Zweifel geben, alle drei Nationen haben über Jahrhunderte unverwechselbare Beiträge geleistet. Die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen gehören gleichfalls dazu, ebenso Slowenien.

Eine Sonderstellung nimmt Zypern ein, das sich in seinem kulturellen Charakter - außer im heute türkischen Teil der Insel - kaum von dem EU-Mitgliedsstaat Griechenland unterscheidet. Die anderen Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Malta lassen hinsichtlich ihrer kulturellen Zugehörigkeit einige Zweifel aufkommen. Die hier nicht genannten Balkan-Völker, die einstweilen keine Beitrittskandidaten sind, haben sich nur in beschränktem Maße in das kulturelle Kontinuum Europas integriert. Dies letztere gilt ähnlich für Rußland, die Ukraine und Weißrußland (Belarus), die alle drei über Jahrhunderte eine in hohem Maße eigenständige, nur untereinander verwandte kulturelle Entwicklung durchlaufen haben. Trotz der Aufnahme kultureller Impulse aus dem Westen und trotz eigener Beiträge zur gesamteuropäischen Kultur müssen sie mit ihren zusammen mehr als zweihundert Millionen Menschen als ein eigener Kulturkreis betrachtet werden (ich gebrauche den Kulturbegriff hier grundsätzlich im umfassenden Sinn, also unter Einschluß der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kultur). Daß die Türkei außerhalb des europäischen Kulturkreises liegt, steht außer jedem vernünftigen Zweifel. Weil der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs die Türkei pro futuro als Beitrittskandidaten bezeichnet hat und weil es Stimmen gibt, die davon sprechen, in fernerer Zukunft westliche Teile des russischen Kulturkreises in die EU aufzunehmen, will ich begründen, warum mir derartige Erweiterungsideen als ganz abwegig erscheinen.

Es gibt auf dem Erdball vierundzwanzig Zeitzonen. Davon erstrecken sich elf über das riesige Gebiet des eurasischen Staates Rußland. Vom Pazifischen Ozean im Osten bis zur Ostsee im Westen reicht das Territorium Rußlands fast über eine Hälfte der Erde. Der größere Teil des russischen Territoriums liegt in Asien, mit endlos langen Grenzen zu China und zu den zentralasiatischen Republiken, die noch vor zehn Jahren Teil der Sowjetunion gewesen sind. Die Grenz- und Gebietsstreitigkeiten mit China reichen bis tief in das 17. Jahrhundert zurück. Von den vielen kleineren und größeren Kriegen haben wir im Westen fast gar nichts gehört oder gelesen. Rußland hat mehrere Jahrhunderte gebraucht, um seinen riesigen asiatischen Besitz zu erobern und zu konsolidieren. Viele lieben die russische Musik: die großartigen Chöre, Tschaikowsky und Mussorgsky, Strawinsky, Prokofjew oder Schostakowitsch. Viele kennen auch die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts: Puschkin und Gogol, Dostojewski und Tolstoi. All das sind unverwechselbare Beiträge zur europäischen Kultur. Von Rußlands Geschichte hingegen, von dem psychologischen, politischen und ökonomischen Erbe, das die heutigen Russen zu bewältigen und zu verarbeiten haben, besitzen wir nur eine geringe Kenntnis.

Wer von uns weiß etwas über die Rolle der Kiewer Rus - vor eintausend Jahren der erste russische Staat - oder über die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche, die seit dem 14. Jahrhundert in Moskau nicht nur ihr Zentrum hat, sondern die Stadt auch in der Nachfolge von Byzanz sieht: "das dritte Rom - und ein viertes wird es niemals geben". Mir scheint, daß das seit Iwan IV. immer wiederkehrende Motiv, über das Gebiet des eigenen Staates hinaus eine russische Mission erfüllen zu müssen, auf dem Boden der orthodoxen Kirche gewachsen ist. Der selbstverschuldete Zusammenbruch der Sowjetunion schließt die schmerzvolle Erfahrung vom Fehlschlag der russischen Mission ein. Dieser Verlust und dazu das vielfältige Triumphgehabe des Westens machen den Argwohn vieler Russen gegenüber westlichen Avancen, Ratschlägen und Kritiken verständlich. Am Ende des 20. Jahrhunderts war das Territorium Rußlands deutlich kleiner geworden, als es am Beginn des Jahrhunderts unter den Zaren gewesen ist; zugleich war die Nato, der große Feind in den fünfundvierzig Jahren des Kalten Krieges, vom Harz über Oder und Weichsel hinweg bis an den Bug um tausend Kilometer näher an Rußland herangerückt. Wer im Westen angesichts dieser Lage den Russen überheblich den Respekt verweigert, auf den diese große Nation Anspruch hat, der gießt Säure in eine Wunde.

Die bei weitem größeren Probleme Rußlands in den nächsten Jahrzehnten liegen jedoch innerhalb seiner eigenen Grenzen. Die politischen, ökonomischen und sozialen Aufgaben sind ungleich schwieriger zu lösen als jene, vor denen wir Deutschen im Jahre 1949 standen. Es gibt keinerlei Strukturen und kaum eigene Erfahrungen, auf die man den Wiederaufbau Rußlands gründen kann. Es handelt sich in Wahrheit weder um Reparatur noch um Wiederaufbau, sondern um die Notwendigkeit eines Neubaus.

Für diesen Neubau findet sich im eigenen Land keine andere Tradition als die des seit Jahrhunderten ununterbrochenen Absolutismus, zunächst der Zaren und ihrer Günstlinge, sodann der Generalsekretäre der KPdSU und ihres Politbüros. Rußland hat im 19. und im 20. Jahrhundert keine Rechte der Person und keine Bürgerrechte entwickelt, keine Rechtskultur, weder ein funktionierendes, verläßliches öffentliches Recht und Privatrecht noch eine unabhängige Justiz. Es gab keine kommunale Selbstverwaltung und keine Entwicklung in Richtung auf eine demokratische Struktur.

Als Gorbatschow in den späten achtziger Jahren die Perestroika ins Werk zu setzen versuchte, gab es weder Unternehmer noch Gewerkschaften, die den Namen verdient hätten. Es gab keine Manager, die Erfahrung mit offenen Märkten und mit Wettbewerb hatten, kein funktionierendes Steuersystem. Es gab erstklassige Naturwissenschaftler und Ingenieure, aber sie arbeiteten für Rüstung und Raumfahrt. Die Massen der arbeitenden Lohnempfänger hatten davon kaum einen Vorteil. Der Staat hatte die Notenpresse, mit welcher er Rubel drucken konnte - was er in opulentem Umfang tat.

Die überhastete Privatisierung mußte in dieser Lage schiefgehen. Es gab keine Kapitalisten oder Personen mit privatem Vermögen, die einen Staatsbetrieb hätten kaufen können; statt dessen gab es reihenweise Wirtschaftsfunktionäre, die sich auf illegitime Weise gegenseitig ganze Konzerne zuschanzten und sich jetzt als Großunternehmer fühlten. Törichte Ratschläge westlicher Regierungen und des IMF sorgten dafür, daß die Grenzen für westliche private Kredite (einschließlich kurzfristigen Geldes!) geöffnet wurden, welche sogleich in die Hände der neuen Privatunternehmer kamen. So entstand zwangsläufig die schmale neue Oberschicht der "Oligarchen" - und die "russische Mafia". Die Russen werden eine ganze Generation brauchen, um ihr Land politisch, ökonomisch und sozial in eine für sie akzeptable Ordnung zu bringen - möglicherweise länger. Weil das russische Volk genügsam und leidgeprüft ist, halte ich es alles in allem für wahrscheinlich, daß der Aufbau gelingt. Freilich werden sich die politischen, die ökonomischen und sozialen Strukturen Rußlands danach stark unterscheiden von denen, die wir in Skandinavien, in West- und Mitteleuropa und bei den europäischen Mittelmeer-Anrainern gewohnt sind. Moskaus Exekutive wird innenpolitisch viel größere Macht haben als die Regierungen der EU-Staaten. Das muß aber eine Kooperation der EU mit Rußland keineswegs behindern, im Gegenteil: In absehbarer Zeit wird ein weitreichender Kooperationsvertrag zwischen der EU und Rußland fällig. Erwünscht sind keine unerbetenen Ratschläge, sondern gemeinsame Vorhaben; zum Beispiel habe ich mir 1990/91 gewünscht, Deutschland würde eine Transrapid-Strecke anbieten, die Paris über Brüssel, Ruhr, Berlin und Warschau mit Moskau verbindet.

Die EU sollte nicht nur auf dem Gebiet von Handel und Finanzen, sondern vor allem in der Diplomatie ein zuverlässiger Partner Rußlands sein. Mein wichtigster Rat: In keiner Krise und auf keinen Fall den nationalen Stolz der Russen verletzen! Alles, was hier über die Geschichte, die gegenwärtige Lage und die vermutliche Zukunft der Russen gesagt wurde, gilt ähnlich auch für die Ukrainer und die Weißrussen. Die drei Völker des russischen Kulturkreises müssen selbst über ihre Zukunft entscheiden. Die Staatsmänner an der Spitze der Europäischen Union sollten sich hüten, durch unüberlegtes Beitrittsgerede, zum Beispiel an die Adresse der Ukraine, diese Zukunft beeinflussen zu wollen.

Vor eintausend Jahren ist die islamische Wissenschaft derjenigen der Europäer weit überlegen gewesen. Uns heutigen Europäern ist dies zumeist nicht bewußt. Kaum jemand weiß, daß das in der Mitte des 8. Jahrhunderts errichtete maurische Kalifat in Cordoba über lange Zeit ein herausragendes geistiges Zentrum gewesen ist, dem Europa in fast allen Wissenschaften einschließlich Philosophie und Theologie wichtige Kenntnisse und Einsichten verdankt. Es waren arabische Gelehrte in Cordoba, die - gemeinsam mit christlichen und jüdischen Gelehrten - dem mittelalterlichen Europa die Schriften und das Wissen der klassischen griechischen Autoren vermittelt haben (übrigens haben die Araber damals auch einige Zivilisationstechniken der Chinesen nach Europa vermittelt). Das medizinische Handbuch des Persers Avicenna (arabisch: Ibn Sina, gestorben 1037) hat über das ganze Mittelalter den Ärzten Europas als Lehrbuch gedient, ähnlich das medizinische Werk des in Cordoba lebenden Mauren Averroes (arabisch: Ibn Ruschd, gestorben 1198). Es waren die von den Päpsten inspirierten Kreuzzüge gegen die Muslime im Mittleren Osten (ab 1096) und die gleichermaßen gegen Muslime wie Juden gerichtete Reconquista in Spanien (beendet 1492), welche den geistigen Kontakt zwischen den christlichen Europäern und den islamischen Arabern praktisch beendet haben.

Die heutige europäische Kultur enthält vielfältige und starke islamische Einflüsse. Dennoch gibt es seit dem Mittelalter in der Volksmeinung der Europäer, jahrhundertelang genährt durch die Kirchen, eine gefühlsmäßige Abneigung gegen den Islam. Dies wäre für beide Seiten vielleicht erträglich, wenn wir weit voneinander entfernt wohnten; tatsächlich aber leben wir nahe beieinander, und die modernen Verkehrstechniken lassen die Entfernungen stetig weiter schrumpfen. Von Marokko und Algerien bis nach Ägypten, von Iran und Irak bis in die Türkei, auch auf dem Balkan leben in unserer Nähe über 300 Millionen Menschen islamischer Religion und Kultur. Ihre Geburtenraten sind doppelt so hoch wie diejenigen der Europäer. Es wird Zeit, daß beide Seiten lernen, sich gegenseitig als Nachbarn anzunehmen. Die Annäherung wird dadurch erschwert, daß die geringen Kenntnisse der Europäer über den Islam von negativen Vorurteilen beeinflußt sind und daß andererseits die große Mehrheit der in unserer Nachbarschaft lebenden Muslime einen deutlich geringeren Lebensstandard hat als die große Mehrheit der Europäer. Das wiederum führt zu muslimischen Zuwanderungen in Staaten der Europäischen Union; bei steigender Zuwanderung aber steigt das Unbehagen unter den Europäern und führt oft genug zu Ablehnung und auch zu Feindschaft.

Heute leben in Deutschland und in Frankreich jeweils drei Millionen Muslime, in England anderthalb Millionen, in Holland eine halbe Million. Eine Integration ist nirgendwo gelungen (am allerwenigsten in Deutschland, wo bis vor kurzem sogar den hier geborenen und hier aufgewachsenen Kindern muslimischer Zuwanderer die Staatsbürgerschaft verwehrt worden ist). Auch für die Zukunft ist eine wirkliche Integration zusätzlicher Zuwanderer nicht zu erwarten; die Zuwanderung bedarf deshalb der gemeinsamen Begrenzung durch die Europäische Union.

Vor zwei Jahrzehnten hat mir ein türkischer Ministerpräsident einmal erklärt, angesichts der hohen Geburtenraten in seinem Land müsse die Türkei bis zum Ende des 20. Jahrhunderts (also bis gestern) weitere zwanzig Millionen türkischer Menschen nach Deutschland schicken. Ich habe das damals abgelehnt. Wenn es in Zukunft je zu einer derart massiven Einwanderung kommen sollte, so würde in der Folge mindestens die Freizügigkeit innerhalb der EU aufgehoben werden - möglicherweise ginge aber noch mehr zu Bruch. Die Türkei umfaßt heute 65 Millionen Menschen, in 35 Jahren wird die Einwohnerzahl auf 100 Millionen ansteigen; nach heutigen Prognosen wird es Ende des 21. Jahrhunderts so viele Türken geben wie Deutsche und Franzosen zusammen. Wer die Türkei in die EU aufnehmen will, sollte diese Zahlen im Kopf haben.

Er muß sich auch fragen, wie denn eine "gemeinsame Außenpolitik" unter Einschluß der Türkei beschaffen sein soll. Die Türkei hat gemeinsame Grenzen mit Syrien, dem Irak, Iran und Armenien; sie liegt seit Jahrhunderten im Streit mit Griechenland, keineswegs allein über Zypern. Nahezu zwangsläufig ist die Türkei indirekt an jedem künftigen Krieg im Mittleren Osten beteiligt, sie hat in dieser Region wichtige eigene Sicherheitsinteressen. Das Problem der insgesamt wahrscheinlich rund 20 Millionen Kurden, denen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges bei der Aufteilung des alten Osmanischen Reiches leider keinen eigenen Staat gegeben haben, lastet nicht nur auf der Türkei, sondern auch auf dem Irak (in beiden Staaten lebt jeweils knapp die Hälfte der Kurden, außerdem leben Kurden in angrenzenden Gebieten Syriens, des Libanon und des Iran).

Die jahrhundertealte Animosität zwischen Türken und Russen kann wieder aufleben, nachdem viele Völker in Zentralasien ihre Unabhängigkeit zurückgewonnen haben. In den sunnitisch-islamischen Republiken werden Sprachen gesprochen, die dem Türkischen nahe verwandt sind; diese Sprachverwandtschaft, welche Dolmetscher vielfach überflüssig macht, reicht bis zu den Uiguren im Westen der chinesischen Provinz Sinkiang. Auch wegen des zentralasiatischen Öls und der Rohrleitungen wird es Interessenkonflikte mit Rußland geben, das den Verlust der fünf zentralasiatischen Republiken noch lange nicht verschmerzt hat.

Der Nato-Mitgliedsstaat Türkei findet sich zukünftig wahrscheinlich in einer komplizierteren Situation als ehedem zu Zeiten des Kalten Krieges zwischen Ost und West. In den Augen der heutigen amerikanischen Politiker bleibt die Türkei ein wichtiger Pfeiler ihrer Strategie der Dominanz im Mittleren Osten, gegenüber Rußland und gegenüber der EU - weswegen Washington nachdrücklich die Aufnahme der Türkei in die EU betreibt. Abgesehen von den hier angedeuteten geopolitischen Zusammenhängen, ist für die Beitrittsabsicht der Türkei zur EU eine Reihe grundlegender kultureller Unterschiede von entscheidender Bedeutung. Die Türkei ist, dank der Reformen Kemal Atatürks in den zwanziger und dreißiger Jahren, ein laizistischer Staat. Der Feudalismus ist abgeschafft; anders als im Iran gibt es eine klare Trennung zwischen Staat und Geistlichkeit; anders als im Irak und in Syrien gibt es eine funktionierende demokratisch-parlamentarische Verfassung.

Die Macht liegt jedoch beim Sicherheitsrat, in dem - unter Vorsitz des Staatspräsidenten - nichts gegen die oberste Generalität entschieden werden kann. Die militärischen Spitzen wachen über die Einhaltung der kemalistischen Reformen, sie stehen gegen die schleichende Re-Islamisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens. Die Kontrollfunktion der Militärs verschafft den laizistisch gesinnten Türken eine gewisse Sicherheit, obwohl sie ironischerweise die Demokratie einschränkt. Aber der Ausgang des Re-Islamisierungsprozesses ist ungewiß, Fundamentalismus ist denkbar geworden. Ich habe die Türkei mehrfach besucht, auch privat. Als Bundeskanzler habe ich eine internationale Initiative für einen größeren Beistandskredit an die Türkei zustande gebracht. Ich habe mich immer als ein befreundeter Nachbar der Türken empfunden, so auch heute. Angesichts der großen kulturellen Unterschiede und angesichts der geopolitischen Bedenken muß ich allerdings dem früheren französischen Außenminister André François-Poncet beipflichten und von einer Aufnahme der Türkei in die Europäische Union abraten. Die Unterschiede zur europäischen Kultur sind weit größer als im Falle Rußlands oder der Ukraine. Wer die Türkei gleichwohl in die EU aufnehmen will, muß wissen, mit welchen Argumenten er später etwaige Beitrittsanträge Ägyptens, Marokkos, Algeriens oder Libyens ablehnen will.

Es bleibt die Tatsache, daß der Europäische Rat die Türkei kürzlich offiziell zum Beitrittskandidaten erklärt hat. Dem liegt zum einen eine Absichtserklärung der damaligen EWG aus den frühen sechziger Jahren und zum anderen diplomatischer Druck durch Amerika zugrunde. Freilich war die Erklärung der Regierungs- und Staatschefs nicht ohne Hintergedanken. Sie verlassen sich nämlich darauf, daß die Türkei in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein wird, die für alle beitrittswilligen Staaten gleichermaßen geltenden Voraussetzungen zu erfüllen und insbesondere den Minderheitenschutz für den großen kurdischen Bevölkerungsteil herzustellen. Es wäre besser gewesen, mit offenen Karten zu spielen. Das Präjudiz aus Zeiten der EWG, vierzig Jahre zurückliegend, kann die heutige politische Union nicht binden; sie ist inzwischen etwas ganz anderes geworden, als unter damaligen Umständen vorauszusehen war. Was die Türkei braucht, ist ein weitreichender Vertrag über Assoziation, Kooperation und gegenseitige Zollfreiheit; die Europäische Union sollte sich dazu bereit finden. (c) DIE ZEIT 41/2000