Süddeutsche Zeitung, 4.10.2000

Brüchige Waffenruhe

Im Gazastreifen und im Westjordanland gehen die Kämpfe weiter / USA bringen Arafat und Barak an einen Tisch / Von Thorsten Schmitz

Jerusalem - Nur wenige Stunden nach Inkrafttreten einer zwischen Israelis und Palästinensern vereinbarten Waffenruhe sind die Kämpfe am Dienstag wieder aufgeflammt. Sowohl aus Gaza wie aus weiten Teilen des Westjordanlandes vermeldeten israelische und palästinensische Medien schwere Auseinandersetzungen, an denen sich auch palästinensische Polizisten und Geheimpolizisten mit Schüssen auf israelische Soldaten beteiligten. Mindestens ein Palästinenser soll getötet, mehrere Dutzend verletzt worden sein. Die israelische Armee setzte nach Angaben des Armeerundfunks in Gaza wiederholt Abwehrraketen ein. Außerdem schoss sie mit gummiummantelten Stahlkugeln auf Palästinenser, nachdem sie sich am Morgen aus vielen Gebieten bereits zurückgezogen hatte. Im überwiegend autonomen Gazastreifen leben etwa 1,5 Millionen Palästinenser und rund 6000 rechtsradikale jüdische Siedler, die von mehreren tausend israelischen Soldaten geschützt werden. Den Waffenstillstand hatten israelische und palästinensische Kommandanten Montagnacht vereinbart.

Kämpfe wurden am Dienstag auch aus allen größeren Städten in Westjordanland gemeldet, darunter Hebron, Nablus und Ramallah, sowie aus arabischen Städten im Norden Israels wie Nazareth und Umm al-Fahm. In den blutigen Auseinandersetzungen, die vor sechs Tagen nach einem umstrittenen Besuch von Oppositionsführer Ariel Scharon auf dem Tempelberg-Plateau mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom begonnen hatten, sind bislang mindestens 48 Palästinenser und israelische Araber sowie drei israelische Soldaten und ein Zivilist getötet worden. Weit über tausend Menschen wurden bislang verletzt.

Auf Initiative von US-Präsident Bill Clinton werden am heutigen Mittwoch Premierminister Ehud Barak und Palästinenserpräsident Jassir Arafat US-Außenministerin Madeleine Albright zu getrennten Gesprächen treffen. Dabei soll unter anderem erörtert werden, wie die Gewalt in der Region beendet und die stockenden Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden können. Clinton erklärte im amerikanischen Fernsehen, sobald sich "der Rauch über der Region gelichtet hat", bestünden "gute Chancen", dass die beiden Parteien wieder miteinander verhandelten. Am Donnerstag werden Barak und Arafat zu Gesprächen mit Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak in Kairo erwartet.

Premierminister Barak bedauerte am Dienstag die "hohen Menschenverluste" und appellierte an Palästinenserpräsident Arafat, sich an den Waffenstillstand zu halten. Wenige Stunden zuvor hatte ein Sprecher der israelischen Armee eingeräumt, dass israelische Soldaten den zwölfjährigen Mohammed al-Durah in Gaza getötet hatten, dessen von einem französischen Kameramann gefilmter Tod weltweit Entsetzen ausgelöst hatte. Barak wies den Vorwurf zurück, die israelischen Soldaten würden unverhältnismäßig hart auf Steine schmeißende Palästinenser reagieren. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat erklärte, Arafat werde heute nach Paris kommen, um "dem Massaker durch israelische Soldaten" ein Ende zu bereiten.