Süddeutsche Zeitung, 2.10.2000

Wenig Land und kein bisschen Frieden

Die Formel von der Rückgabe besetzter Gebiete gegen Verzicht auf Gewalt hat bisher nicht funktioniert

Die Worte klingen heute prophetisch. Es war am 31. Oktober 1991, als Haidar Abdel Schafi, Verhandlungsführer der Palästinenser auf der Friedenskonferenz von Madrid, vor der Weltöffentlichkeit das Leid seiner Landsleute beklagte: "Was sagen wir den Familien jener, die durch Kugeln getötet wurden? Wie beantworten wir diese Frage unseren Kindern? Denn eines von drei Kindern wurde in den letzten Jahren unter (israelischer) Besatzung entweder getötet, verletzt oder ins Gefängnis geworfen.

Der damalige amerikanische Präsident George Bush, der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der israelische Ministerpräsident Jitzchak Schamir, US-Außenminister James Baker und der Niederländer Hans van den Broek für die Europäische Union gehörten zu den Politikern, die in Madrid zusammen gekommen waren, um eine Prophezeiung wahr zu machen, die während des Krieges um Kuwait allenthalben in der Region gemacht worden war: Nach der Vertreibung des Irakers Saddam Hussein aus Kuwait werde der Nahe Osten "nie mehr der selbe" sein. Eine "neue Weltordnung" (George Bush) werde Frieden bringen und das palästinensische Leiden, von dem Haidar Abdel Schafi gesprochen hatte, beenden.

Die Opfer, an die Shafi erinnerte, waren Opfer der Intifada, jenes mehrjährigen Aufstandes frustrierter palästinensischer Jugendlicher, der im Dezember 1987 in Gaza begonnen hatte. Jassir Arafat und seine "Palästinensische Befreiungsorganisation" (PLO) saßen damals noch in Tunis. Intifada, Golfkrieg, Friedensgespräche von Madrid - ein Aufstand, ein Krieg und eine Konferenz führten schließlich in Madrid zu einer historischen Übereinkunft: Die arabische Welt versprach Israel Frieden, sofern Israel die im Krieg von 1967 besetzten arabischen Gebiete zurückgibt.

Die neun Jahre, die seit der Erfindung der Formel "Land für Frieden vergangen sind, haben den Palästinensern ein wenig Land, Israelis und Palästinensern aber keineswegs Frieden gebracht. Arafat ging geschwächt in die Verhandlungen. Er hatte im Golfkrieg auf der falschen Seite, auf der Seite Saddam Husseins, gestanden. Er musste nehmen, was Israelis und Amerikaner ihm boten. In Oslo ließ Arafat 1993 in geheimen Gesprächen mit den Israelis eine "Prinzipien-Erklärung über eine Interim-Selbstverwaltung der Palästinenser" aushandeln. Palästinenser sollten in begrenztem Maße ihr Land selber verwalten. Wie 1994 in Kairo vereinbart wurde, kamen zunächst der Gazastreifen und die Stadt Jericho unter Arafats zivile Kontrolle. Arafat und seine PLO siedelten Mitte 1994 von Tunis nach Gaza über. Ein Traum schien in Erfüllung zu gehen.

Doch seither hat Kritik an den Abkommen von Oslo und Kairo Arafat begleitet. Edward Said etwa, in Amerika lehrender prominenter palästinensischer Literaturwissenschaftler und politischer Kolumnist, ist noch immer der Meinung, in Oslo sei eine schlecht vorbereitete palästinensische Delegation den Israelis auf den Leim gegangen.

Auf die Verträge von Oslo und Kairo folgten weitere zermürbende Verhandlungsrunden - etwa die auf der "Wye River Farm" bei Washington. 1998 einigten sich der damalige israelische Premier Benjamin Netanjahu, Arafat und US-Präsident Bill Clinton unter Mithilfe des schon vom Krebs gezeichneten jordanischen Königs Hussein auf einen israelischen Truppenrückzug. Im September 1999 wurde - als Fortsetzung des Wye-Abkommens - im ägyptischen Sharm el-Scheich ein weiterer israelischer Rückzug vereinbart. Und schließlich sollte bis zum 13. September dieses Jahres der in Oslo begonnene Friedensprozess zu Ende geführt sein.

Doch im Juli scheiterte im amerikanischen Camp David eine Mammutkonferenz. Immerhin waren die Israelis dort erstmals bereit, über die Rückführung palästinensischer Flüchtlinge und über den Status von Jerusalem zu sprechen - ein kleiner Erfolg für den Frieden. Um diese Friedenshoffnung nicht zu gefährden, verschob Arafat die für den 13. September vorgesehene Ausrufung eines palästinensischen Staates.

In der vorigen Woche erwachte neuer Optimismus. Israels Premier Ehud Barak deutete an, die Palästinenser könnten ihre Hauptstadt im Osten Jerusalems, in "Al-Quds", errichten. Am selben Tag erschien Likud-Chef Ariel Scharon auf dem Tempelberg. Die "Blutspur des Friedens", wie sich ein Palästinenser sarkastisch ausdrückte, hat die Friedenspartner eingeholt. Es geschah, was Arafat durch die Verschiebung der Staatsgründung hatte verhindern wollen. Endgültig wissen seitdem alle Beteiligten, was dem Nahen Osten droht, wenn es nicht bald ein Friedensabkommen gibt.

Heiko Flottau