Süddeutsche Zeitung, 2.10.2000

Blutige Krawalle gefährden Frieden in Nahost

Schwere Zusammenstöße zwischen Palästinensern und Israelis

Israels Premier Barak ruft Arafat auf, die Straßenschlachten zu beenden / Mindestens 23 Tote und 700 Verletzte / Von Thorsten Schmitz

Jerusalem - Bei den blutigsten Unruhen in den Palästinensergebieten seit vier Jahren sind mindestens 23 Palästinenser und ein israelischer Soldat getötet worden, weit mehr als 700 Palästinenser sowie mehrere Dutzend israelische Soldaten wurden verletzt. Israels Premierminister Ehud Barak forderte Palästinenserpräsident Jassir Arafat auf, die Straßenschlachten zu stoppen. Arafat warf Israel vor, die Unruhen provoziert zu haben. Die amerikanische Regierung und die Europäische Union ermahnten beide Seiten zur Zurückhaltung. An den Unruhen beteiligten sich am Sonntag auch israelische Araber aus Nazareth.

Zu den blutigen Auseinandersetzungen war es am Donnerstag gekommen, nachdem der israelische Likud-Vorsitzende Ariel Scharon unter starkem Polizeischutz die Esplanade des Tempelbergs aufgesucht hatte, dessen eine Außenmauer die Klagemauer ist. Auf dem Tempelberg befinden sich die den Muslimen heiligen Stätten Felsendom und Al-Aksa-Moschee, üblicherweise betritt kein Jude das in der Altstadt gelegene Gelände. Die Uneinigkeit darüber, wer über den Tempelberg Souveränität erhalten soll, ist einer der Hauptgründe für die stockenden Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern. Die Führung der Palästinenser bezeichnete den Besuch Scharons als Provokation. Bereits am Freitag waren nach palästinensischen Angaben fünf Palästinenser durch Gummimantel-Geschosse israelischer Soldaten getötet worden, nachdem beide Seiten sich in der Altstadt Jerusalems und in der palästinensischen Autonomiestadt Ramallah stundenlang Gefechte geliefert hatten.

Armee will zurückschießen

Die Kämpfe wurden mit unverminderter Gewalt am Wochenende im gesamten Westjordanland und im Gaza-Streifen fortgesetzt. Am Sonntag beteiligten sich erstmals hunderte von arabischen Israelis an dem von Arafat ausgerufenen Generalstreik. Sie lieferten sich Straßenschlachten mit israelischen Soldaten. Tausende von Israelis, die sich auf dem Rückweg von Kurzurlauben im Galil befanden, steckten im Norden des Landes fest, weil israelische Araber einige von ihnen mit Molotowcocktails bewarfen. Israelische Araber sind Palästinenser mit israelischem Pass, die nicht in Israels Armee dienen. Sollte sich die Lage in den Abendstunden nicht entschärft haben, habe die israelische Armee die Erlaubnis, mit scharfer Munition zu schießen, erklärte ein Armeesprecher im Radio. Augenzeugen zufolge wurde in Nablus von zwei israelischen Hubschraubern aus auf Zivilisen und Polizisten geschossen.

Nach palästinensischen Angaben wurden bei den Kämpfen bislang insgesamt 23 Palästinenser getötet. Die meisten Toten wurden am Sonntagmittag unter großer Anteilnahme der palästinensischen Bevölkerung beerdigt. Während der Beerdigung eines zwölf Jahre alten Jungen in Gaza skandierten die Trauernden "Tod Ariel Scharon" und riefen zur Vernichtung Israels auf. Auf Anordnung Arafats bleiben die Schulen in Gaza und im Westjordanland bis Dienstag geschlossen. Damit will er verhindern, dass Kinder zwischen die Fronten geraten.

Israels Generalstabschef Schaul Mofaz warf der palästinensischen Autonomiebehörde vor, die Kämpfe initiiert zu haben. Auch Israels Außenminister Schlomo Ben-Ami sprach von "stichhaltigen Beweisen", dass die Straßenschlachten "von oben orchestriert" worden seien. Dies sei ebenso gefährlich wie "das Reiten auf dem Rücken eines Tigers". Ben-Ami forderte Arafat auf, die Kämpfe zu unterbinden. Das Kabinett von Arafat verlangte von den Vereinten Nationen eine Dringlichkeitssitzung, um das Verhalten der Israelis zu untersuchen. Arafat sprach nach einem Treffen mit Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak von einem "brutalen Massaker" am palästinensischen Volk und von einem "Religionskrieg".

Israels Premier Ehud Barak sagte Arafat in einem Telefonat, die Soldaten hätten den Befehl, nur bei ernsthafter Bedrohung mit scharfer Munition zu schießen. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat sagte, Israel solle sofort seine Truppen zurückziehen. Sie seien eine "Provokation" und übten "exzessive Gewalt" aus. US-Präsident Bill Clinton, UN-Generalsekretär Kofi Anan und mehrere Regierungschefs aus EU-Staaten appellierten an Palästinenser und Israel, die Kämpfe einzustellen.