junge Welt, 02.10.2000

Friedensprozeß erstickt in Gewalt

Nahost: Auseinandersetzungen nach Scharon-Provokation dauern an.

jW-Bericht

Die schweren Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften hielten am Wochenende in unverminderter Schärfe an. Nicht nur in Jerusalem dauerten die Straßenschlachten an; auch in Teilen des Westjordanlandes und des Gazastreifens kam es zu Zusammenstößen zwischen und israelischer Polizei und Militär, die mit Gummigeschossen, scharfer Munition und Tränengas gegen die Proteste vorgingen. Mindestens 18 palästinensische Demonstranten wurden dabei von israelischen Soldaten erschossen, weit über 700 zum Teil schwer verletzt. Auf israelische Seite soll es nach Berichten von Korrespondenten lediglich elf Verletze gegeben haben. Vor diesem Hintergrund warf der palästinensische Unterhändler für die Gespräche mit Israel, Sajeb Erakat, den Israelis am Sonntag exzessive Gewaltanwendung vor, »die von den hohen Opferzahlen belegt wird«. Palästinenser hätten weder auf Israelis geschossen noch Israelis getötet. »Die Soldaten sind diejenigen, die Palästinenser töten«, fügte er hinzu.

Auslöser der schwersten Unruhen in den palästinensischen Gebieten seit vier Jahren war ein Besuch des ultrarechten israelischen Oppositionsführers Ariel Scharon am Donnerstag auf dem Jerusalemer Tempelberg. Scharons demonstrativer Abstecher auf den für Juden heiligen Berg, der zugleich mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom wichtige Heiligtümer des Islams beherbergt, wurde von vielen palästinensischen Aktivisten als Kriegserklärung gewertet. Auch Palästinenserpräsident Yassir Arafat sprach unmittelbar nach dem Besuch von einer schweren Provokation durch Scharon. Selbst der Sprecher des US-Außenministeriums, Richard Boucher, kritisierte: »Wir waren besorgt, daß der Besuch Scharons an dieser Stätte zu Spannungen führen könnte. Und das war dann ja auch der Fall.«

Scharon, der den vom israelischen Premier Ehud Barak eingeschlagenen Kurs in den Verhandlungen mit Arafat entschieden ablehnt, wies indes im israelischen Fernsehen jede Verantwortung für die Welle der Gewalt von sich. »Ich habe nicht das Feuer gelegt«, meinte er und nutzte seinen Auftritt am Wochenende für weitere Angriffe gegen die Palästinenser: »Das war die Anstiftung durch die palästinensische Autonomiebehörde, die schon einige Zeit anhält«, meinte Scharon.

Der Gewaltausbruch bleibt offenbar auch nicht ohne Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern. Ein Telefonat zwischen Barak und Arafat vom Sonnabend zur Entspannung der Situation blieb ergebnislos; der Ton zwischen beiden Seiten soll nach Berichten aus politischen Führungskreisen deutlich eisiger geworden sein.

Indessen schlossen sich einem in den Autonomiegebieten ausgerufenen Generalstreik am Sonntag israelische Araber an. Ein arabischer Abgeordneter der Knesset, Mohammed Barakeh, sagte: »Nach meiner Ansicht kann die arabische israelische Bevölkerung nicht neutral bleiben, und deswegen haben wir zum Generalstreik aufgerufen.

Der Führer der palästinensischen Organisation El Fatah im Westjordanland, Marwan Barghuti, fürchtet indes, daß die Ausschreitungen in den kommenden Tagen weiter zunehmen. »Wie sich die Israelis jetzt in den palästinensischen Gebieten verhalten und daß sie kein Bedauern über ihr Vorgehen zeigen, fördert die Konfrontation«.