Stuttgarter Zeitung, 29.08.2000

Beispiel Schweiz: Übersetzer am Krankenbett

Erst von Frau zu Frau gewinnt Ayshe Vertrauen

Professionelle Dolmetscherdienste sind in Schweizer Kliniken selbstverständlich. Sie verbessern nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Bilanzen.
Von Felix Ruhl, Basel
Ayshe soll sich eine "dickere Haut'' zulegen, damit sie von ihren Alltagssorgen nicht immer so "runtergezogen'' wird, rät die Psychotherapeutin. Ayshe (Name geändert) versteht den Ausdruck nicht. Aber zwischen der 22-jährigen Kurdin und ihrer Therapeutin, der Basler Psychologin Ruth Müllejans, vermittelt eine Dolmetscherin, die auch die Übertragung bildhafter Ausdrücke in beide Richtungen beherrscht. Die Schilderungen der Patientin teilt Eylem Atalay in der Ich-Form mit, um sie möglichst authentisch wiederzugeben.
Für Ayshe, die vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen ist, entfällt damit die Angst, in der fremden Schweiz missverstanden zu werden. Anfangs habe sie sich schwer getan, sich gleich zwei fremden Personen anzuvertrauen, sagt sie, aber jetzt sei sie froh darüber.
Das Therapiegespräch in der Basler Psychiatrischen Universitätspoliklinik ist beispielhaft für die Behandlung ausländischer Patienten in der Schweiz. Schon seit 1987 bietet das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz medizinisch geschulte Dolmetscher an. Die Zeiten, als die türkische Putzfrau noch beratend zur Seite stand, wenn der Patient sein psychosomatisch bedingtes Unwohlsein damit zu begründen suchte, sein Bauch tue weh, sind längst vorbei. Die Übersetzerdienste des Hilfswerks sind zu einer festen Institution geworden. Solche Dienste hat jüngst auch die deutsche Ausländerbeauftragte Marielouise Beck beim Gesundheitstag in Berlin für Deutschland gefordert.
Bei der Behandlung ausländischer Patienten kommt es nicht nur zu sprachlich, sondern auch immer wieder zu kulturell bedingten Kommunikationsstörungen. Ruth Müllejans nennt Beispiele: Da habe es den Fall gegeben, dass eine türkische Patientin gesagt habe: "Ich habe den Kopf gegessen.'' Der Therapeut habe gleich an eine schwer wiegende Psychose gedacht und die Frau gefragt, wessen Kopf sie denn gegessen habe. Dabei handelte es sich um ein sprachliches Bild, den Ausdruck von Verzweiflung. Eine professionelle Dolmetscherin kann grobe Missverständnisse vermeiden. Eylem Atalay weiß etwa, was es bedeutet, wenn eine türkische Frau berichtet, ein Mann habe sie "in die Berge mitgenommen''. Das ist die Umschreibung einer Vergewaltigung.
Wichtig sei es auch, dass die Übersetzerin eine Außenstehende sei, kein Familienmitglied, sagt Eylem Atalay. Beinahe ausgeschlossen sei es etwa, dass ein traditionell erzogener türkischer Familienvater seiner Tochter Probleme aus seinem Intimbereich oder Ehestreitigkeiten anvertraue.
Beim Hilfswerk achtet man deshalb darauf, dass die Übersetzer über das richtige Maß an Distanz, aber gleichzeitig über exakte Kenntnisse der kulturellen Hintergründe verfügen. "Die Dolmetscher müssen mindestens fünf Jahre in der Schweiz gelebt haben und beide Kulturen kennen'', sagt Projektleiter Olaf Petersen. Die Dolmeterscherdienste verfügen über 12 feste und 38 freie Mitarbeiter. Die Übersetzer decken 21 Sprachen und Dialekte ab, darunter Tamilisch, Persisch oder Pastou, die Amtssprache Afghanistans. Wie wichtig die Übersetzerin als Vertrauensperson sein kann, zeigt sich bei Ayshe. Die Kurdin hat bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Vor ihrem trinkenden und schlagenden Vater ist sie geflohen - ein mutiger und unter Kurden ganz ungewöhnlicher Schritt, bestätigt Eylem Atalay. Jetzt lebt Ayshe allein, fühlt sich einsam. Allein zwischen zwei Kulturen.
In der Therapie erzählt Ayshe von ihrer Unsicherheit, von den ständigen Kontrollanrufen ihrer Mutter und der Angst vor Menschen außerhalb ihrer Familie. Eylem Atalay ist etwa so alt wie Ayshe, ihr kann sie sich anvertrauen. Der Augenkontakt verläuft während der Sitzung fast ausschließlich zwischen den beiden jungen Frauen.
In Basel mit einem Ausländeranteil von 26 Prozent sind die Übersetzerdienste ein unverzichtbarer Bestandteil der medizinischen Versorgung. Im Industrie- und Arbeiterviertel Kleinbasel, eingerahmt von den Hochhäusern der Chemie- und Pharmariesen Novartis und Roche, sind 35 Prozent der Einwohner aus dem Ausland zugezogen. In manchen Quartieren Kleinbasels beträgt der Ausländeranteil 50 Prozent. Viele beherrschen die deutsche Sprache gerade so, dass sie sich am Arbeitsplatz verständigen können. In Kleinbasel befindet sich auch die Abteilung der Psychiatrischen Universitätspoliklinik, in der Ruth Müllejans arbeitet. Bis vor kurzem war gleich daneben der Drogenstrich angesiedelt. 40 Prozent der Patienten sind ausländischer Herkunft. Ein knappes Drittel spricht keine der drei Schweizer Landessprachen. In der Klinik hat man daher schon in den achtziger Jahren einen Leitfaden zur Schaffung gemeindenaher psychiatrischer Versorgung erstellt.
Ähnliche Einrichtungen gibt es in Deutschland kaum. Fehldiagnosen oder umständliche Arztgespräche geben ständig Anlass zu Ärger. Auch in den Statistiken der Krankenkassen macht sich das bemerkbar. Nach einer Studie des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen gehen ausländische Frauen über 40, also vorwiegend Frauen aus der ersten Einwanderergeneration, deutlich häufiger zum Arzt als deutsche Frauen im gleichen Alter - wegen Sprachproblemen, nicht etwa, weil sie das deutsche Gratissystem ausnutzen wollten. Missverständnisse führen zu Mehrfachbehandlungen und zu häufigem Arztwechsel. Fühlt sich der ausländische Patient nicht verstanden, geht er vielleicht gar nicht mehr zum Arzt. Chronische Erkrankungen können die Folge sein.
Der Ruf nach professioneller Übersetzung im medizinischen Bereich wird in Deutschland zwar immer wieder laut, stößt jedoch auf das Gegenargument des Sparzwangs. Die Übersetzerdienste in der Schweiz werden von der Schweizerischen Interessengemeinschaft für Übersetzung und Mediation im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich in Bern sowie vom Bundesamt für Gesundheit finanziell unterstützt.
Die Dolmetscherdienste, glaubt Andreas Bitterlin, Pressesprecher des Kantonsspitals Basel, leisteten sogar einen Beitrag zur Kostendämpfung. Die Beratungsgespräche verliefen strukturierter, Mehrfachbehandlungen oder überflüssige Überweisungen könnten vermieden werden. "Die Erfahrung wie auch Studien zeigen, dass der Dolmetscherdienst bei komplexen medizinischen Problemen qualitativ bessere und kürzere Diagnosewege bringt'', sagt Bitterlin.