junge Welt, 28.08.2000

Interview:Warum begünstigen Kirchen Abschiebungen?

jW sprach mit der Juristin Uta Ries, Geschäftsführerin im »Wiesbadener Flüchtlingsrat«

F: Das Kirchenasyl galt lange als unantastbar. Besonders aber der Fall der Familie Akyüz sorgte in den vergangenen Tagen für Aufregung. Die Mutter ist mit ihren Kindern aus dem Kirchenasyl in Mainz geflohen und lebt seit einer Woche »untergetaucht«. War der Schutz der Familie nicht mehr gewährleistet?

Der Fall hat eine tragische Vorgeschichte. Der Familienvater mußte bereits 1983 aus der Türkei fliehen, nachdem er aufgrund seiner Weigerung, »Dorfschützer« für die türkische Regierung zu werden, mehrmals verhaftet und gefoltert worden war. Nach dem Verschwinden des Vaters gerieten auch Frau Akyüz und der älteste Sohn der Familie in die Fänge der Sicherheitsbehörden. Die Familie floh 1995 nach Deutschland, die Asylanträge wurden aber abgelehnt. 1998 wurde Vater Akyüz in die Türkei abgeschoben.

Anfang Januar gelang dem Vater die erneute Flucht aus der Türkei. Er berichtete damals, daß er gleich nach seiner Ankunft in Istanbul verhaftet und erneut gefoltert worden war. Obwohl ein Vorgutachten des »Psychosozialen Zentrums für Opfer organisierter Gewalt« die Glaubwürdigkeit dieser Angaben unterstrich, wurde auch sein Folgeantrag auf Asyl abgelehnt. Die Familie wandte sich damals an die beiden Wiesbadener Kirchengemeinden und baten um Kirchenasyl. Die Evangelische Studentengemeinde (ESG) erklärte sich bereit, der Familie Kirchenasyl zu gewähren.

Unabhängig davon hat der Verwaltungsrat der katholischen St. Elisabeth-Gemeinde die Zusage, der Familie bis zur endgültigen Klärung des Verfahrens Schutz zu gewähren, gebrochen. Daraufhin erklärte die evangelische Kreuzkirchengemeinde, sie sei nur zusammen mit der St. Elisabeth-Gemeinde in der Lage, eine Fortsetzung des Kirchenasyls in Wiesbaden zu bewerkstelligen. In der ESG lief unterdessen ein äußerst widerwärtiger Deal zwischen Kirchenleitung und rheinland-pfälzischem Innenministerium.

Die älteste Tochter der Familie Akyüz, Selma, ist schwer nierenkrank, ihr Zustand verschlechterte sich während des Kirchenasyls dramatisch. Der Deal der daraufhin zwischen der obersten Kirchenleitung - vermutlich Kirchenpräsident Steinacker - und dem Innenministerium ausgehandelt wurde: Selmas Leben, d. h. »freies Geleit« ins Krankenhaus, gegen die Zusage, das Kirchenasyl in Mainz bis spätestens 31. August zu beenden. Nachdem die Wiesbadener Gemeinden die notwendige Unterstützung versagten, spitzte sich auch in der ESG die Situation bedrohlich zu. In dieser Situation entschied sich die Familie zur Flucht aus dem Kirchenasyl und zum Untertauchen.

F: Sie sorgte damit bundesweit für Schlagzeilen. Was ist das Besondere am Schicksal der Familie?

Bis vor wenigen Tagen hätte ich noch gesagt: Nichts. Denn daß Kurden in der Türkei gefoltert werden, ist leider ebensowenig ein Einzelfall wie das Verhalten der deutschen Gerichte. Das ist die herrschende »Normalität« im Umgang mit Flüchtlingen. Daß allerdings eine Familie von den Kirchen, die ihnen Schutz versprochen hatten, derart in die Pfanne gehauen wird, wie das jetzt passiert ist, ist bisher bundesweit einmalig.

F: Wie bewerten Sie das Vorgehen der Kirchengemeinde? Hat es »Druck von oben« gegeben?

Einig sind wir uns im Flüchtlingsrat, daß Familie Akyüz eindeutig von den Kirchengemeinden fallengelassen wurde, obwohl zuvor Schutz zugesagt worden war. Fakt ist auch, daß die Kirchenleitung über die Köpfe der Familie hinweg mit offiziellen Stellen verhandelte, ohne auch nur zu fragen, ob die Verhandlungen in ihrem Sinne waren.

F: Gibt es nach dem »Abtauchen« der Familie Möglichkeiten, Unterstützung zu gewähren?

Unbedingt! Gerade jetzt ist es besonders wichtig, öffentlich für die Familie einzutreten. Wir hoffen auf möglichst viele Leserbriefe an Zeitungen, Protestbriefe an die Kirchenleitung und die beteiligten Kirchengemeinden. Wir suchen außerdem dringend Kirchengemeinden, die bereit wären, die Familie aufzunehmen - für den Fall, daß die Familie überhaupt bereit ist, das Risiko einzugehen, noch einmal einer Kirche zu vertrauen. Wichtig wäre das nicht nur, weil wir Angst haben, daß die Familie jetzt in der Illegalität verhaftet und abgeschoben werden könnte, sondern auch, weil das Verwaltungsgericht Wiesbaden sofort auf das Untertauchen der Familie reagierte und sie über den Anwalt aufgefordert hat, binnen eines Monats eine »ständige Wohnanschrift« mitzuteilen. Andernfalls werde das noch laufende Asylverfahren eingestellt.

Der Familie muß jetzt vermittelt werden, daß es noch immer Menschen gibt, denen ihr Schicksal nicht egal ist, und die sich mit ihnen solidarisieren. Für uns ist es besonders bitter, daß wir selbst zu der Situation beigetragen haben: Immerhin haben wir ursprünglich den Kontakt zu den Kirchen hergestellt und der Familie geraten, ihnen zu vertrauen.

Um die Hilfe jetzt aufrechtzuerhalten, benötigen wir auch finanzielle Unterstützung, um die Kosten des laufenden Verfahrens zu decken. Gerne hätten wir auch Kopien der Protestschreiben. Unsere Adresse ist: Flüchtlingsrat, Blücherstr. 32, 65195 Wiesbaden, Tel.: 0611/495249. Wir hoffen, daß sich viele Menschen finden, die auf unser Konto »Wiesbadener Flüchtlingsrat« unter dem Stichwort »Akyüz« bei der Nassauischen Sparkasse, Wiesbaden, BLZ: 51050015, Konto-Nr.: 135135100 Spenden überwiesen. Die Familie selbst muß ja auch irgendwie überleben, und wir gehen davon aus, daß wir einen Weg finden, ihnen Geld zukommen zu lassen.

Interview: Thomas Klein