taz 28.08.2000

Nebensachen aus Istanbul

Überleben im Erdbebengebiet

"Keine Gefahr" oder "Super-GAU"?

Letzte Woche hatten wir Besuch aus Deutschland. Als am Mittwochnachmittag plötzlich die Lampen zu wackeln anfingen und das Geschirr im Schrank klirrte, wurde unser Gast leicht weiß um die Nase und bekam ein panisches Flackern im Blick. "Wie könnt ihr nur so ruhig bleiben?", fragte sie entsetzt. "Das Haus hätte einstürzen können." Vielleicht, aber eher doch nicht. Seit dem Jahrhundertbeben im August letzten Jahres hat es in derselben Region, am östlichen Rand des Marmarameeres, hunderte von Nachbeben beziehungsweise neue, schwächere Beben gegeben. Das am Mittwoch war knapp 200 Kilometer östlich von Istanbul entfernt und erreichte 5,8 auf der Richterskala - ein Wert, der einem schon einen gehörigen Schrecken einjagen kann.

Wie immer nach einem derartigen Vorfall erschienen die Erdbebenexperten auf dem Bildschirm, um die Nation mit ihrem Fachwissen vertraut zu machen. Dummerweise neigen die Experten dazu, sich zu widersprechen. Die Einschätzungen reichen von "keine Gefahr" bis zum bevorstehenden Super-GAU für die 15-Millionen-Metropole Istanbul innerhalb der nächsten Jahre. Nach ein paar Monaten weiß man immerhin so viel, dass die Experten nicht viel wissen.

Wie kann man also dennoch so ruhig bleiben? Das erste, was man als Bewohner einer aktiven Erdspalte lernt, ist: Panik ist der größte Feind jeder Überlebensstrategie. Wer sich verrückt machen lässt und jeden Moment mit dem Schlimmsten rechnet, hat eigentlich nur eine Wahl: Er/Sie muss woanders hinziehen, in ein Gebiet, das ganz bestimmt erdbebensicher ist. Die Türkei gilt allerdings auf 95 Prozent ihres Territoriums als potenziell erdbebengefährdet.

Folglich hilft nur Ruhe bewahren, allerdings ohne die Gefahr zu ignorieren. Erdbebentraining, wie es in Japan und Kalifornien systematisch betrieben wird, steckt in Istanbul zwar noch in den Anfängen, aber das Bewusstsein, für sein Schicksal selbst Vorsorge treffen zu müssen, wächst. Einer der vielen Experten, die im letzten Herbst aus dem Ausland nach Istanbul kamen, erklärte während einer Veranstaltung von NGOs, die wichtigste Erkenntnis aus Kalifornien sei: Trainiere deinen Nachbarn, denn er ist dein potenzieller Retter. In einigen intakten Gegenden in Istanbul haben die Leute deshalb damit angefangen, Stadtteilgruppen zu bilden, in denen über ein planmäßiges, organisiertes Vorgehen bei einem Beben diskutiert wird. Wo es keine Nachbarschaftsinitiativen gibt, wird zumindest in der Familie besprochen, wie sich jeder verhält.

Die wenigen Sekunden, die bei einem schweren Beben bleiben, müssen genutzt werden, um den Platz aufzusuchen, der wohl in fast jeder Wohnung mittlerweile als erdbebensichere Ecke vorbereitet wurde. Das sind Tische oder Schreibtische, die so verstärkt wurden, dass sie im Falle eines Falles Hohlräume bilden, also Überlebensräume. Außerdem müssen Trinkwasser, ein Verbandskasten und ein geladenes Handy immer bereitstehen.

Es mag unwahrscheinlich klingen, aber man gewöhnt sich daran. Das heißt nicht, dass man nicht hin und wieder aus einem Alptraum erwacht und ganz sicher glaubt, es habe gebebt. Doch trotz der Vorbereitungen, trotz der scheinbaren Ruhe ist es wohl so, dass immer mehr Menschen unter psychischen Spannungen leiden, die mit dem Erdbeben zusammenhängen. In Istanbul ist zurzeit jedenfalls nur auf eines Verlass: dass die Erde sich immer dann mal wieder meldet, wenn man gerade dabei war, die Gefahr zu vergessen. JÜRGEN GOTTSCHLICH