Bieler Tagblatt (CH), 26.08.2000

Türkin wehrt sich mit Hungerstreik

Die Türkei fordert die Auslieferung einer angeblichen Terroristin.

Belgien will dem Druck nicht nachgeben.

Mark Schenker/TA,

Brüssel Seit 41 Tagen befindet sich die 23-jährige Türkin Fehriye Erdal im eleganten Nordsee-Badeort Knokke im Hungerstreik. Das Mitglied einer linksextremen türkischen Partei ist inzwischen auf 40 Kilogramm abgemagert. Ärzte erklären, die militante Türkin befinde sich in Lebensgefahr. Mit der spektakulären Aktion protestiert Erdal nicht nur gegen den von der belgischen Regierung verhängten Hausarrest - sie will auch einer Auslieferung an Ankara und einer möglichen Todesstrafe zuvorkommen. Durch die grosse Publizität, die der Fall Erdal inzwischen gewonnen hat, soll Innenminister Antoine Duquesne unter Druck gesetzt werden, das im Frühling beantragte Asylgesuch zu bewilligen.

Mordfall Sabanci
Fehriye Erdal wurde im September letzten Jahres von der belgischen Polizei verhaftet. Bei der Durchsuchung ihres Appartements in Knokke fand man nicht nur gefälschte Ausweise und Pässe, sondern auch Waffen und Dokumente der DHKP-C, der «Revolutionären Front zur Befreiung des türkischen Volkes». Gemäss türkischen Angaben ist Erdal in den Mordfall Sabanci verwickelt: Der türkische Gross-industrielle wurde 1996 von linken Terroristen erschossen. Die Türkin wies vor den belgischen Untersuchungsbehörden jegliche Verwicklung in den Mord zurück, gab aber zu, der DHKP-C anzugehören. Obwohl die belgische Polizei keine Beweise für eine Komplizenschaft Erdals im Fall Sabanci fand, wurde die junge Türkin in Isolierhaft genommen. Nach der Intervention ihrer Anwälte entschied im März ein Gericht, dass Erdal unverzüglich auf freien Fuss zu setzen sei, da die türkischen Beschuldigungen nicht erhärtet werden könnten.

V-Zeichen und Lächeln
Der sozialdemokratische Justizminister Marc Verwilghen ordnete denn auch die Freilassung an - doch stellte sich jetzt plötzlich der liberale Innenminister Duquesne quer. Mit dem Argument, er verfüge wegen der anstehenden Fussball-WM nicht über genügend Polizisten, um Erdal gegen Entführungs- oder Mordversuche (des türkischen Geheimdienstes) zu schützen, musste Erdal weiterhin in Isolationshaft verbleiben. Im Juli wies das Innenministerium das Asylgesuch ab. Immerhin weigerte sich Duquesne auch, die von einem möglichen Todesurteil bedrohte Türkin an ihr Heimatland auszuliefern, obwohl Ankara und Brüssel für solche Fälle einen gegenseitigen Auslieferungsvertrag abgeschlossen haben. Nach den zunehmenden Protesten der Öffentlichkeit wurde Erdal im Juli aus dem Gefängnis befreit, gleichzeitig an einem «geheimen» Ort unter Hausarrest gestellt. Doch das Fernsehen hat die neue Wohnung Erdals in Knokke längst ausfindig gemacht - und so ist die deutlich abgemagerte, aber weiterhin psychisch ungebrochene «Terroristin» mit ihren Markenzeichen - dem V-Zeichen und dem stolzen Lächeln - immer wieder zu bester Sendezeit im TV zu sehen.