Tagesspiegel, 26.08.2000

Rüstungsexporte
Die Türkei liefert Gegnern wie Befürwortern der Waffenexporte Argumente

Thomas Seibert

Der türkische Menschenrechtsverein IHD hat in den 14 Jahren seines Bestehens schon so einiges an unangenehmen Erfahrungen mit den Behörden gemacht. Doch das Schicksal des IHD-Büros in der Provinzhauptstadt Diyarbakir im Kurdengebiet überraschte selbst die Leid geprüften Menschenrechtler. Das Büro war im Mai geschlossen worden. Verbissen kämpfte der IHD um eine Wiedereröffnung, und in der vergangenen Woche war es endlich so weit: Das Büro nahm seine Arbeit auf. Doch nach nur 30 Minuten kam die Polizei und schloss es wieder. Nicht zum ersten Mal erfuhr der IHD, wie schlecht es um das Verständnis türkischer Behörden von Demokratie und Menschenrechten bestellt ist. Dabei hatte der Verein den türkischen Behörden erst wenige Tage zuvor deutliche Fortschritte in der Menschenrechtspolitik bescheinigt. Im wieder aufgeflammten Berliner Koalitionsstreit um Rüstungslieferungen an die Türkei spielt die Lage der Menschenrechte beim Nato-Partner eine entscheidende Rolle: Ankara soll erst dann mit deutschen Rüstungsgütern rechnen können, wenn sich die Lage verbessert habe. Die derzeitige Situation in der Türkei kann jedoch sowohl Gegnern als auch Befürwortern von Waffenexporten Argumente liefern.

IHD-Chef Hüsnü Öndül bilanzierte Anfang des Monats, Fälle von Folter seien im Zeitraum zwischen Januar und Juni - also seit der Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidatin im Dezember - im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 334 auf 263 zurückgegangen. Die Zahl der Festnahmen fiel sogar um mehr als die Hälfte von 35 200 auf 15 980. Das seien ermutigende Entwicklungen, sagte Öndül. Dennoch gebe es keinen Grund zur Entwarnung: Die Zahl der Gefängnisstrafen für so genannte "Gedankenverbrechen" stieg um 118 Prozent.

Auch auf anderen Gebieten ergibt sich ein gemischtes Bild. Die Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Rebellenorganisation PKK ist zwar zu Ende, doch in weiten Teilen des Kurdengebiets gilt nach wie vor der Ausnahmezustand mit vielen Einschränkungen der Grundrechte. Neu ist, dass über Missstände zumindest geredet wird. Erstmals veröffentlichte vor kurzem der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments einen ungeschminkten Bericht über Misshandlungen in Gefängnissen und auf Polizeistationen. Die Parlamentarier zogen zwar eine niederschmetternde Bilanz, denn sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Folter nach wie vor türkischer Alltag ist, doch die Initiative der Abgeordneten zeitigt trotzdem Erfolge. Die Ausschussvorsitzende Sema Piskinsüt wird inzwischen als lebendige Kontrollinstanz in Sachen Menschenrechte angesehen. So wurde der Politiker von einem empörten Bürger angerufen, der durch das Fenster einer Polizeiwache gesehen hatte, dass jemand verprügelt wurde. Noch vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. Auch die türkische Regierung ist mit Rücksicht auf ihre EU-Ambitionen aktiv geworden. So wurden die Strafen für Folterer erhöht.

Der Reformeifer hat aber Grenzen. Minderheitenrechte für die Kurden, wie sie die Kurden selbst und auch die Europäer seit langem fordern, wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Auch die Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die eine der größten Hürden auf dem Weg der Türkei in die EU sind, dürften weiter in Kraft bleiben. Der türkische Staat fühlt sich von islamischen Fundamentalisten und kurdischen Separatisten so bedroht, dass er selbst harmlose Meinungsäußerungen als Verbrechen einstuft. Und an der beherrschenden Stellung der Armee, die in den Grundfragen der Politik mächtiger ist als die gewählte Regierung, wird ebenfalls nicht gerüttelt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Türkei trotz guter Ansätze in den vergangenen Monaten weiterhin erhebliche Probleme im Menschenrechtsbereich hat; selbst die Regierung in Ankara gibt das zu - und gelobt Besserung.