Neue Zürcher Zeitung (CH), 24.08.2000

Verbesserte Versorgungslage dank hohen Ölpreisen im Irak

Die humanitäre Situation trotz Fortschritten weiterhin unbefriedigend

Das hohe Niveau der Erdölpreise und die Ausweitung der Fördermengen haben sich positiv auf die Versorgungslage im Irak ausgewirkt. Nahrungsmittel und Medikamente gelangen inzwischen genügend ins Land, doch die Kindersterblichkeit und auch die Unterernährung bei Kleinkindern konnten wegen struktureller Probleme noch nicht eingedämmt werden.

jpk. Genf, 23. August

Die Versorgungslage im Irak hat sich merklich verbessert. Dank der Verdoppelung der Erdöl preise in den vergangenen 12 Monaten und einer Steigerung der Fördermengen seit Ende 1996 von etwa 650 000 auf weit über 2 Millionen Barrel pro Tag stehen dem Land inzwischen bedeutend um fangreichere Mittel zur Abdeckung der Grund bedürfnisse zur Verfügung als noch zu Beginn des Programms «Öl gegen Nahrungsmittel» der Ver einten Nationen. Zwar kann der Irak wegen des weiterhin geltenden Uno-Embargos nicht frei über die Erdöleinkünfte verfügen, doch hat sich der Spielraum für die Beschaffung der benötigten Nahrungsmittel und der übrigen Güter für die allmähliche Wiederinstandstellung der Infrastruktur des Landes deutlich erweitert. Die vom Uno- Sicherheitsrat im vergangenen Juni verabschiedete achte Phase des Programms «Öl gegen Nahrungsmittel» sieht für die zweite Jahreshälfte Erdölexporte für über 10 Milliarden Dollar und Güterimporte im Rahmen des humanitären Uno- Programms im Umfang von 7,1 Milliarden Dollar vor. In der ersten, im Dezember 1996 in Kraft getretenen Phase hatten dem Land noch lediglich 1,3 Milliarden Dollar für Importe von dringend benötigten Gütern für sechs Monate zur Verfügung gestanden.

Freigabe der Fördermengen
Mit den Ende 1999 verabschiedeten Resolutionen wurden zudem die Fördermengen für Erdöl praktisch freigegeben. Beobachter gehen deshalb davon aus, dass der Irak die Fördermengen in den nächsten Monaten weiter erhöhen wird, welche bis Ende Jahr den Rekordstand von 3,2 Millionen Barrel pro Tag erreichen könnten. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der für die achte Phase verabschiedete Verteilplan erneut die Beschaffung von Ersatzteilen für die Erdölförderung im Umfang von 600 Millionen Dollar vorsieht. Damit wird der Irak seit 1998 Ersatzteile für die Erdölförderung im Gesamtumfang von 2,4 Milliarden Dollar beschafft haben können. Die stete Lockerung der geltenden Beschränkung der Fördermengen ist vermutlich nicht nur auf humanitäre Überlegungen und Sorgen zurückzuführen, sondern auch auf den Wunsch, die boomende Weltwirtschaft mit genügend Erdöl zu versorgen, damit die Preise nicht noch weiter steigen. Vor allem die USA scheinen ihre Zustimmung zur weiteren Sanierung der irakischen Förderanlagen in der achten Phase des Uno-Plans auf Grund wirtschaftlicher Überlegungen gegeben zu haben, wird in diplomatischen Kreisen betont.

Die Freigabe der Fördermengen entspricht nach Ansicht von Beobachtern noch keineswegs einem Schritt zur Aufhebung des Handelsembargos. Doch der Entscheid hat in Verbindung mit der Erleichterung des Bewilligungsverfahrens im Uno-Sanktionskomitee im März dieses Jahres - durch das vor allem die Einfuhr von Medikamenten, Material für das Ausbildungswesen, von Ausrüstungsgegenständen für die Wasserversorgung und Wasseraufbereitung sowie die Instandstellung der Telekommunikation - die negativen Auswirkungen der Sanktionen gemindert und den Handlungsspielraum der irakischen Regierung erweitert. Gewisse Mitglieder der irakischen Regierung sollen die Erleichterungen bereits als Schwächung der Uno-Sanktionen sehen und gehen in zwischen davon aus, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis das Handelsembargo von selbst verschwindet. Solche Vorstellungen dürften es auch sein, welche die irakische Regierung in den vergangenen Tagen dazu bewogen hatten, den Bagdader Flughafen für die Ankunft einer russischen Delegation wieder zu eröffnen.

Derartige Hoffnungen erscheinen allerdings doch noch verfrüht zu sein. Solange keine neue Vereinbarung zur Regelung der Waffeninspektionen gefunden wird, ist kaum damit zu rechnen, dass die Sanktionen wirklich aufgehoben werden. Zudem kann die irakische Regierung nicht über die Einnahmen der Erdölausfuhren verfügen. Diese werden weiterhin von der Uno zwangsverwaltet und dem Land indirekt über einen vom Uno-Sicherheitsrat verabschiedeten Verteilplan in Form von Gütern zur Verfügung gestellt. Ein Drittel der Einnahmen wird für die Speisung der Uno-Kompensationskommission (UNCC) verwendet, durch die Reparationsforderungen aus der Zeit des Golfkrieges beglichen werden. Von den eingegangenen Forderungen im Umfang von 320 Milliarden Dollar dürfte das Uno-Gremium allerdings nur einen Teil auch wirklich gutheissen. Bisher wurden vom UNCC Forderungen im Umfang von etwa 16 Milliarden Dollar akzeptiert und 7,3 Milliarden Dollar an Kläger ausbezahlt. 13 Prozent der Öleinnahmen müssen zudem für die Versorgung der nördlichen Kurdengebiete eingesetzt werden, über welche die Regierung in Bagdad zurzeit keine direkte Kontrolle mehr hat. Ein Teil der Einnahmen wird schliesslich für die Uno-Administration verwendet, welche die Verteilungen der humanitären Güter überwacht.

Hoffen auf gute Geschäfte
Ähnlich wie die irakische Regierung scheinen auch zahlreiche grosse Unternehmen und verschiedene westliche Staaten, allen voran Frankreich, Italien und Spanien, auf eine baldige Aufhebung oder zumindest eine starke Lockerung des Uno-Handelsembargos zu spekulieren. Die Zahl der Mitarbeiter der verschiedenen inzwischen wieder geöffneten westlichen Botschaften soll in den letzten Monaten stark gestiegen sein. Allein bei der französischen Botschaft sollen mehr als zwei Dutzend Diplomaten, die alle auf wirtschaftliche Fragen spezialisiert sind, tätig sein. Gleichzeitig nimmt auch die Zahl der Besuche von Firmenvertretern und die Zahl der Geschäftsabschlüsse stetig zu. Von dieser Entwicklung konnten anscheinend auch Schweizer Unterneh men profitieren. Sie sollen für die siebte Phase des Uno-Verteilplans Aufträge im Umfang von 77 Millionen Franken erhalten haben, und dies, obwohl die Schweizer Botschaft in der irakischen Hauptstadt immer noch geschlossen ist.

Zur Belebung der geschäftlichen Tätigkeiten im Irak hat zudem wahrscheinlich auch das Bemühen der irakischen Regierung beigetragen, Unternehmen lukrative Verträge in Aussicht zu stellen, wenn diese ihre Kompensationsforderungen zurückziehen. Auf solche Angebote sollen nach Angaben aus gut unterrichteten Kreisen inzwischen verschiedene Firmen eingegangen sein. Vom UNCC wird eine solche Entwicklung zwar nicht bestätigt, doch wird nicht dementiert, dass verschiedene Kläger ihre Forderungen zurück gezogen haben. Gleichzeitig wird von dem Uno- Gremium betont, Kläger müssten keine Gründe für den Rückzug ihrer Klagen angeben.

In der irakischen Hauptstadt hat die Zunahme der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel nach Angaben aus diplomatischen Kreisen zu einer Belebung der wirtschaftlichen Aktivitäten geführt. Von der Entwicklung scheint aber nur ein kleiner Kreis von bereits privilegierten Personen zu profitieren, die auch an den illegalen Erdölausfuhren beteiligt sind, die nach amerikanischen Schätzungen ein Volumen von 45 Millionen Dollar pro Jahr erreichen. Sichtbare Zeichen des grösseren Wohlstandes in Bagdad sind die Eröffnung neuer Boutiquen, welche illegal importierte Luxusgüter anbieten, und die starke Zunahme teurer Personenwagen. Bei den über den Schwarzmarkt importierten Karossen soll es sich mehrheitlich um Limousinen der Marken Merce des und BMW handeln.

Genügend Nahrungsmittel vorhanden
Für den Grossteil der Bevölkerung hat sich die Entwicklung der vergangenen Monate zwar auch positiv ausgewirkt, doch von einem allgemeinen Neubeginn ist anscheinend noch nichts zu spüren. Die Ausweitung des Programms «Öl gegen Nahrungsmittel» hat vor allem dazu geführt, dass im Prinzip nun alle genug zu essen haben. Von einem Mangel an Lebensmitteln kann nach Angaben von humanitären Organisationen nicht mehr gesprochen werden. Die landwirtschaftliche Produktion hat zwar, nicht zuletzt auch wegen einer lange anhaltenden Dürreperiode, die von der Regierung gesteckten Ziele bei weitem nicht erreicht. Der Mangel an einheimischen Grund nahrungsmitteln konnte aber durch die im Rahmen des Uno-Programms durchgeführten Nahrungsmittelimporte mehr als kompensiert wor den.

Durch das Uno-Programm stehen inzwischen 2472 Kalorien pro Person und Tag zur Verfügung. Die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen deshalb trotz dem Rückgang der einheimi schen Produktion nicht an, sondern sanken sogar. Verbessert hat sich zudem auch die Verfügbarkeit von Medikamenten. Nach Angaben von Hilfswer ken kann auch auf diesem Gebiet nicht mehr von einem Mangel gesprochen werden. Dazu beigetragen hat neben den zusätzlich vorhandenen finanziellen Mitteln vor allem auch die Beschleunigung der Bewilligungsverfahren des Uno-Sanktionskomitees für diesen Sektor.

Kein Rückgang der Kindersterblichkeit
Trotz der Sättigung des Marktes mit Nahrungsmitteln gingen aber die Kindersterblichkeit und die Fehl- und Unterernährung bei Kleinkindern nicht zurück. Vertreter humanitärer Organisationen führen diese auf den ersten Blick unverständliche Tatsache darauf zurück, dass vor allem die Trinkwasserversorgung schlecht ist und die Ernährung nicht genug variiert. In den im Rahmen des Uno-Programms verteilten Rationen befinden sich weder Früchte noch Gemüse. Familien, die über keine eigenen Einnahmequellen verfügen, können sich die dringend benötigten Vitamine kaum besorgen. Die Qualität des Wassers ist zudem weiterhin miserabel. In ländlichen Gebieten gilt das zur Verfügung stehende Trinkwasser als nicht oder nur kaum geniessbar. Kleinkinder leiden sehr oft an Durchfallerkrankungen und Mangelerscheinungen, die wegen des schlecht funktionierenden Gesundheitswesens nur allzu oft den Tod der Betroffenen zur Folge haben.

In den letzten Jahren ist das einst hochstehende Gesundheitssystem wegen des Mangels an finanziellen Mitteln zerfallen, und dessen Leistungen entsprechen heute denjenigen eines ärmeren Entwicklungslands. Grosse Teile der medizinischen Infrastruktur sind verschwunden oder so sehr zerfallen, dass Patienten kaum mehr versorgt werden können. Die Spitalgebäude sind seit ihrer Errichtung in den siebziger Jahren kaum mehr saniert worden, neue Bauten konnten keine errichtet werden. Die jüngeren Ärzte sind schlechter ausgebildet als ihre älteren Kollegen, die noch vor den Kriegen die Universität abgeschlossen haben. Gut ausgebildete Krankenschwestern und Pfleger sind kaum vorhanden, da bis vor dem letzten Golfkrieg ein Grossteil der Spitäler mit Pflegepersonal aus Drittländern betrieben worden war. Neues Pflegepersonal konnte seither nur in ungenügendem Ausmass ausgebildet werden.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls in einem desolaten Zustand. Wegen des Mangels an Bestandteilen und Personal funktionieren zahlreiche Kläranlagen und Bewässerungssysteme überhaupt nicht mehr. Bei vielen Anlagen fehlen Filter und Chemikalien, um die Aufbereitung des Wassers sicherstellen zu können. Irakische Ingenieure wären noch genug vorhanden, doch fehlt es auch in diesem Bereich an den nötigen Handwerkern, welche Defekte ausbessern und die in den letzten Monaten eintreffenden Ersatzteile montieren könnten. Wie beim Pflegepersonal hat sich der Irak auch im technischen Bereich zu lange auf ausländische Arbeitskräfte verlassen, die nun nicht mehr im Land sind. Verschlimmert wird die prekäre Lage bei der Trinkwasserversorgung zudem von einem akuten Mangel an Wasser. Als Folge der langen Dürreperioden hat der Tigris den tiefsten Stand seit Jahren erreicht, was zu einem stärkeren Verschmutzungsgrad des Wassers führt. Dies wiederum hat zur Folge, dass die noch funktionierenden Wasseraufbereitungsanlagen überlastet sind.

Fehlende Perspektive
Verhindert wird ein Neubeginn allerdings nicht nur durch den Mangel an Fachpersonal, fehlenden Ersatzteilen und mangelnde Niederschläge. Einer der wichtigsten Gründe für die desolate Lage des Landes ist nach Angaben ausländischer Beobachter die mangelnde Perspektive für die meisten Iraker. Im Land ist wegen der verschiedenen Kriege und des Sanktionsregimes seit zwei Jahrzehnten bereits normales wirtschaftliches Leben erloschen. Die einzige Hoffnung vieler Iraker besteht deshalb zurzeit darin, ihre Heimat verlassen zu können.