DER STANDARD (A), 24. August 2000,

Kommentar

Rechtsstaat Türkei

Gudrun Harrer

Der türkische Regierungschef Bülent Ecevit hat schon gewusst, warum er, nur um Süleyman Demirel als Staatspräsidenten behalten zu können, im Frühjahr dieses Jahres sogar die türkische Verfassung ändern lassen wollte. Nachdem er am Parlament gescheitert war, begrüßte er zwar den Kompromisskandidaten Ahmet Necdet Sezer enthusiastisch, nahm jedoch in seinem Lob genau das vorweg, was ihm soeben gründlich das böse Spiel verdorben hat: "Sezer wird die Entwicklung der Türkei zum demokratischen Rechtsstaat beschleunigen", sagte Ecevit damals.

Wie Recht er doch hatte. Der neue türkische Präsident kennt als Jurist die Verfassung nicht nur, er nimmt sie auch beim Wort. Dass die Regierung das Parlament austrickst, indem sie in der Ferienzeit per Regierungsdekret erledigt, was sie erledigt haben will - und wozu sie im Parlament vielleicht kein Gesetz zustande bringt -, ist gute alte türkische Politik. Dass der Präsident das Dekret nicht unterzeichnet, weil er "nicht der Notar der Regierung" ist und "verfassungswidrige Dekrete" eben nicht absegnet, ist ein kräftiges Lebenszeichen des sich entwickelnden türkischen Rechtsstaats.

Umso mehr, als Sezer ganz bestimmt nicht, wie es ihm blindwütige Propagandisten jetzt vorwerfen, mit den Islamisten sympathisiert, gegen die der so genannte "Radikalenerlass" hauptsächlich gerichtet gewesen wäre. Der Präsident, ein aufrechter Kemalist, hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass radikale Tendenzen zu bekämpfen seien - aber mit rechtsstaatlichen Mitteln eben. Die meisten Türken haben das verstanden und danken es ihrem Präsidenten mit offener Zustimmung. Die Botschaft wurde aber auch in Brüssel wohl vernommen. Dass die EU den Beitrittskandidaten Türkei genau beobachtet, dürfte denn auch beim Nachgeben der Regierung Ecevit keine geringe Rolle gespielt haben.