Badische Zeitung, 24.8.2000

Türkisches Militär gibt nach

Sezer verteidigt Rechtsstaat mit Erfolg

ISTANBUL. Die Absicht der türkischen Regierung, per Dekret so genannte islamische Fundamentalisten oder vermeintliche Seperatisten aus dem Staatsdienst entfernen zu lassen, ist am Widerstand von Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer gescheitert. Auch der Nationale Sicherheitsrat, über den das Militär seine Wünsche an die Exekutive weitergibt, vermochte den Präsidenten gestern nicht zu überzeugen.

In dem Konflikt zwischen Regierungschef Bülent Ecevit und Präsident Sezer, der seit Wochen schwelte, setzte sich letztlich der Präsident mit seiner Auffassung durch, eine solche Maßnahme könne nicht per Dekret ergriffen werden. Nur das Parlament könne ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten. Nachdem Sezer Anfang der Woche ein zweites Mal förmlich seine Unterschrift unter das Dekret verweigert hatte, kündigte die Regierung nach einem Treffen der drei Vorsitzenden der an der Koalition beteiligten Parteien an, nach der Sommerpause eine entsprechende Vorlage ins Parlament einzubringen.

In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats versuchte das Militär noch einmal, Sezer davon zu überzeugen, dem Dekret zuzustimmen. Sezer ließ sich aber nur dazu erweichen, einem Kommunikee des Sicherheitsrats zuzustimmen. Darin wird bekräftigt, dass der Staat alle Mittel ergreifen werde, um den Staatsapparat vor einer extremistischen Unterwanderung zu schützen, aber eben nicht per Dekret. Damit ist eine bislang beispiellose Konfrontation zwischen den beiden obersten Verfassungsorganen durch einen Rückzug der Regierung beigelegt worden.

Präsident Sezer hatte von Beginn der Auseinandersetzung an klar gemacht, dass er nicht dagegen sei, Extremisten aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen, allerdings dürfe dies nur auf einer gesetzlichen Grundlage und nicht per Regierungsdekret geschehen. Die Militärs, die die Regierung dazu gedrängt hatten, das Dekret zu erlassen, haben zwar zu verstehen gegeben, dass sie darauf bestehen werden, den laizistischen Staat gegen eine islamistische Unterwanderung zu schützen. Offenbar sind sie aber bereit zu akzeptieren, dass dies künftig nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und nicht mehr auf dem Weg administrativer Säuberungen geschieht.

In der türkischen Öffentlichkeit hat die Position des Präsidenten in den vergangenen Tagen mehr und mehr Unterstützung erfahren. Positiv wurde seine Äußerung bewertet, er sei nicht gewillt, als ehemaliger Verfassungsrichter nun selbst gegen die Verfassung zu verstoßen. "Ich bin nicht der Notar der Regierung, der lediglich alles abzeichnet, sondern ein Teil der Exekutive", sagte er nach seiner zweiten Weigerung, den Wünschen Ecevits zu entsprechen. "Als Jurist bin ich nicht gewillt, gesetzwidrige Dekrete zu unterzeichen."

Für die Türkei ist der Ausgang dieser Affäre ein Novum, weil vor allem das Militär bislang gewohnt war, dass die Regierungen den Wünschen des Generalstabs widerspruchslos folgen. Durch sein Beispiel schafft Präsident Sezer nun Freiräume, die auch unteren Chargen die Möglichkeit geben, darauf zu bestehen, dass der Staat nach Recht und Gesetz handeln muss.

Doch der Präsident hat nicht nur innenpolitisch ein wichtiges Signal gegeben, auch die EU in Brüssel dürfte die Auseinandersetzung zwischen Präsident und Regierungschef aufmerksam verfolgt haben. Die Stärkung des Rechtsstaates ist schließlich eine der Hauptforderungen der Europäischen Union an die Türkei.

Jürgen Gottschlich