Neue Zürcher Zeitung (CH), 24. August 2000

Berichte über türkische Luftangriffe im Nordirak

Irrtümliche Bombardierungen im Vorgehen gegen die PKK?

In ihrem Vorgehen gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) hat die türkische Luftwaffe im Norden des Iraks offenbar unbeteiligte Zivilisten bombardiert. Laut verschiedenen Berichten sind dabei mindestens vierzig Personen ums Leben gekommen.

jkt. Istanbul, 23. August

Laut Berichten aus dem Norden des Iraks sind bei zwei Luftangriffen der türkischen Luftwaffe am 15. und 17. August über 40 kurdische Zivilisten, unter ihnen auch Frauen und Kinder, umgekommen. Auf den ersten Luftangriff machte die von Masud Barzani geführte Demokratische Partei Kurdistans (DPK) aufmerksam. Im Fernseh sender der Partei waren Aufnahmen aus einem Spital in Erbil zu sehen, die unter anderem mehrere verletzte Kleinkinder zeigten. Eine Kurdin gab darin zu Protokoll, sie habe Schafe gehütet, als die Flugzeuge plötzlich Bomben auf sie warfen. Verbindungen zur PKK habe sie nicht. Nach Angaben der DPK kamen bei dem Angriff 38 Personen ums Leben, 11 wurden verletzt und 4 gelten als vermisst. Die Irakische Kommunistische Partei (ICP) berichtete am 18. August von einem Luftangriff auf die Dörfer Lulan und Khazina im Nordosten der Provinz Erbil. Es seien 12 Bomben abgeworfen worden; 41 Zivilisten, meist Frauen und Kinder, seien getötet und 57 verletzt worden.

Jahrelanger Schwebezustand
Ein Sprecher der in London ansässigen Organisation Nationalkongress Kurdistans (KNC) nannte als Ort des Bombardements Kendeko. Den Widerspruch zu den Angaben der ICP konnte er auf Nachfrage nicht erklären, schloss aber nicht aus, dass es sich um benachbarte Dörfer handle. Auch Kendeko liegt im Nordosten der Provinz Erbil. Nach seinen Angaben hat es bei dem Angriff am 15. und einem weiteren, weniger schweren Luftangriff am 17. August 44 Tote und über 70 Verletzte gegeben. Die Opfer gehörten dem kurdischen Stamm der Harki an, die als Halb nomaden im Winter in festen Dörfern leben und im Sommer mit ihren Tieren umherziehen. Nach Angaben des KNC wurden bei den Angriffen auch Napalmbomben eingesetzt. Ein Sprecher des türkischen Aussenministeriums bestätigte, dass am 15. August im Nordirak eine Operation der türkischen Luftwaffe stattgefunden habe. Die Türkei führe solche Operationen von Zeit zu Zeit aus, um die PKK zu bekämpfen. Solche Aktionen fänden aber nur statt, nachdem Massnahmen zum Schutz der kurdischen Zivilisten in der Region ergriffen worden seien. Die Anschuldigungen würden aber untersucht.

Das hauptsächlich von Kurden besiedelte Gebiet im Norden des Iraks ist seit dem Golfkrieg von 1991 in einer Art Schwebezustand. 1987/88 führte die irakische Armee eine Kampagne gegen den rebellischen Norden durch und tötete Zehntausende von Kurden bei Giftgasangriffen und nachfolgenden Massenerschiessungen. Nach dem Golfkrieg erhob sich die Region gegen Saddam Hussein und wurde aus Angst vor einer grossen Flüchtlingswelle von den Golfkriegsalliierten zur Schutzzone erklärt. Jahrelang nutzte die PKK diesen Schwebezustand zu Angriffen auf die Türkei aus, die wiederum Operationen jenseits der Grenze ausführte. Seit letztem Sommer hat die PKK ihre Angriffe auf die Türkei praktisch eingestellt, unterhält aber noch Basen im Nordirak, die weiter das Ziel von militärischen Operationen der Türkei sind. Für Journalisten ist es kaum möglich, sich ein eigenes Bild von der Lage im Nordirak zu machen, da die Türkei seit mehreren Jahren keine Beobachter mehr über die Grenze lässt und das Gebiet über Umwege nur schwer zu erreichen ist.

Widersprüchliche Einschätzung
Dennoch sind die Berichte über die türkischen Luftangriffe glaubwürdig. Unter anderem des halb, weil die Anschuldigungen auch von Barzanis Demokratischer Partei kommen, die mit der Türkei gegen die PKK verbündet ist. Vor einem Jahr hatte auch Iran ähnliche Beschuldigungen gegen die Türkei wegen eines Bombenangriffs auf Hirten im Grenzgebiet erhoben. Irakische Kurden wollen in den Luftangriffen nicht nur einen Irrtum der türkischen Luftwaffe sehen. In seiner Erklärung betonte der KNC, es gehe der Türkei im Einklang mit Saddam Hussein um die Destabilisierung der kurdischen Region im Norden des Iraks. Barzani erklärte dagegen am Dienstag, die Bombardierungen seien ein Versehen, das sich nicht wiederholen werde, und beschuldigte die PKK, dafür indirekt verantwortlich zu sein.