Badische Zeitung, 23.8.2000

Präsident Sezer weigert sich, einen Radikalenerlass der Regierung zu unterzeichnen / Grund: Dekret sei nicht verfassungskonform

Die Türkei auf dem Weg in eine Krise

Von unserem Korrespondenten Jürgen Gottschlich

ISTANBUL. Die Türkei steht vor einer veritablen Staatskrise, weil die wichtigsten Institutionen des Landes sich gegenseitig blockieren. Seit Wochen weigert sich Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer ein Dekret zu unterzeichnen, das die Regierung ihm während der Parlamentsferien vorgelegt hat. Am Montagnachmittag weigerte er sich zum zweiten Mal, den Erlass in Kraft zu setzen.

Dabei geht es um eine Art Radikalenerlass, mit dessen Hilfe so genannte islamische Fundamentalisten oder Seperatisten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden können. Staatspräsident Sezer, der vor seiner Wahl im April dieses Jahres Vorsitzender des Verfassungsgerichts war, hat Ministerpräsident Ecevit ausrichten lassen, ein so gravierender Eingriff in die Grundrechte, wie dieser Erlass sie vorsehe, bedürfe einer gesetzlichen Grundlage und könne nicht einfach von der Regierung angeordnet werden.

Ecevit fand diesen Einwand völlig inakzeptabel und legte den Erlass in unveränderter Form dem Präsidenten zum zweiten Mal vor. Laut Ecevit sei der Präsident verpflichtet, den Erlass innerhalb von 15 Tagen zu unterzeichnen. Als er gefragt wurde, was denn passiert, wenn der Präsident sich weiterhin weigert, sagte er: "Das möchte ich mir erst gar nicht vorstellen." Seit gestern muss Ecevit sich nun mit dem Unvorstellbaren befassen. In einer ersten Stellungnahme warf er Sezer Amtsanmaßung vor und behauptete, Sezer hätte den Erlass erst unterzeichnen müssen und ihn dann dem Verfassungsgericht vorlegen können.

Im Hintergrund dieses Konflikts stehen die Militärs und die unterschiedlichen Auffassungen vom Rechtsstaat zwischen Necdet Sezer einerseits und einem Teil der alten Eliten auf der anderen Seite. Seit das Militär im Frühjahr 1997 den damaligen islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan aus dem Amt gedrängt hat, diktieren die Generäle über den Nationalen Sicherheitsrat den Regierungen Maßnahmen gegen den Islamismus. Das Dekret, das jetzt zum Streit geführt hat, gehört zu diesem Maßnahmenkatalog.

Sezer, der als Verfassungsrichter am Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei beteiligt war, ist inhaltlich von den Militärs nicht weit entfernt, aber er besteht auf einer rechtsstaatlich einwandfreien Vorgehensweise. Der Radikalenerlass muss im Parlament als Gesetz verabschiedet werden und die Betroffenen sollen die Möglichkeit haben, dagegen zu klagen. Weil Regierungschef Ecevit jedoch befürchtet, im Parlament für das Gesetz keine Mehrheit zu fin-den, will er das Dekret auf Biegen und Brechen während der Parlamentsferien durchsetzen.

In der türkischen Öffentlichkeit wird das Verhalten Necdet Sezers heftig diskutiert. Während ein Teil der Zeitungen ihn als "Islamistenfreund denunziert, wird in anderen Zeitungen seine prinzipienfeste Haltung für Demokratie und Rechtsstaat enthusiastisch begrüßt. Die Anhänger Sezers fürchten nun, dass der Präsident aus dem Amt gemobbt werden könnte, wenn er nicht nachgibt. Ein Gespräch unter vier Augen zwischen Präsident und Regierungschef hatte in der vergangenen Woche zu keiner Einigung geführt.

Mit Spannung wird deshalb die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats, der heute tagt, erwartet. Dort hat die Militärführung die Gelegenheit, Präsident Sezer direkt anzugehen. Ein Kompromiss scheint allerdings nicht in Sicht. In seinem letzten öffentlichen Statement hat Sezer erklärt, er denke überhaupt nicht daran, Dekrete der Regierung zu unterzeichnen, die gegen die Verfassung verstoßen.