Salzburger Nachrichten (A), 21.8.2000

"Eine Krise auf Leben und Tod"

Im Mittleren Osten spitzt sich die Wassernot zu. Eine Zeitbombe tickt. Die Araber fühlen sich der Willkür der regionalen Militärmächte ausgeliefert.

BIRGIT CERHA

"Wir können nicht länger von Krise sprechen", bemerkt ein internationaler Experte alarmiert. "Im Raum der MENA-Staaten (des Mittleren Ostens und Nordafrikas, Anm.) hat sich die Wassernot zu einer Frage von Leben und Tod zugespitzt." Die Statistik spricht für sich. Im MENA-Raum leben fünf Prozent der Weltbevölkerung, doch sie müssen sich mit einem Prozent der weltweiten Trinkwasservorräte begnügen. Laut Arabischer Liga verbrauchen die arabischen Länder derzeit im Schnitt 970 Kubikmeter Wasser pro Jahr, Länder des Westens hingegen 7650 Kubikmeter. 1960 waren auf jeden Araber im Schnitt noch 3300 Kubikmeter gefallen. Experten schätzen, dass die arabische Welt in 25 Jahren pro Kopf mit 650 Kubikmeter Wasser auskommen muss.

Die Situation wird verschärft durch die katastrophalen Wetterverhältnisse. Der Orient kämpft derzeit mit der schwersten Dürre seit 60 Jahren. In den kommenden 20 Jahren, stellten jüngst UN-Experten fest, würden die "Wasserreservoire die Bedürfnisse (der Region) nicht mehr decken können. Nur drei Länder der Region verfü-gen über eine Wasserkapazität, welche die von der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO empfohlene Menge von 1500 Kubikmetern pro Person und Jahr übersteigt: die Türkei (4500), Irak (4400) und Libanon (3000). Unter diesem Wert liegen Syrien und Ägypten mit 1300 bzw. 1200 Kubikmeter. Viele Wasserexperten halten diese Menge noch für ausreichend.

Alarmierender sieht es für Israelis und Jordanier aus, denen nur rund 300 Kubikmeter Wasser pro Person zur Verfügung stehen, die Palästinenser müssen sich mit weit weniger begnügen. Schätzungen variieren. In Jordanien, dessen Bevölkerung um 3,6 Prozent pro Jahr wächst, nehmen die Wasservorräte im selben Maße ab.

Die Region schöpft ihr Wasser von drei Hauptquellen; den in der südöstlichen Türkei entspringenden Euphrat und Tigris, die die Türkei, Syrien (der Euphrat) und den Irak versorgen; dem Nil (von dem neun afrikanische Länder, Ägypten und Sudan leben); und dem auf den von Israel besetzten syrischen Golanhöhen entspringenden Jordan. Das größte Problem ist nach Ansicht von Experten die hohe strategische Bedeutung des Wassers, da die Quellen in den meisten Fällen außerhalb der Kontrolle der Mehrheit der Benutzer liegen. Irak und Syrien stehen seit Jahren mit der Türkei wegen eines gigantischen Projekts von rund 20 Staudämmen und Kraftwerken (genannt GAP) am Euphrat und Tigris im Konflikt. Israelis und Palästinenser führen einen erbitterten Kampf um die schwindenden Quellen ihrer Region.

Israel kontrolliert 80 Prozent der erneuerbaren Wasserquellen Westjordaniens und stiehlt vom besetzten syrischen Golan 40 Prozent der dortigen Wasservorräte. Ein riesiges Bewässerunsgsprogramm in Ägypten beunruhigt zunehmend die anderen Nilanrainer.

Schon in der Vergangenheit hat das Streben nach Kontrolle über das lebensspendende Nass Kriege mitausgelöst, insbesondere jenen zwischen Israelis und Arabern 1967. So manche Wissenschafter, Akademiker und Politiker sind davon überzeugt, dass der Mittlere Osten auf einer tickenden Zeitbombe sitzt. Jordanische Experten mahnen, selbst wenn es Israelis und Arabern gelingt, einen allumfassenden Frieden zu schließen, ist damit die Gefahr von Wasserkonflikten nicht gebannt. Und sie verweisen auf die Erfahrung mit dem Judenstaat, mit dem Amman im Rahmen eines Friedensvertrages ein Wasserabkommen schloss. Dessen Einhaltung stößt jedoch auf beträchtliche Schwierigkeiten.

Die Araber fühlen sich in die Enge getrieben, von den beiden Militärmächten der Region - Israel und Türkei - in ihrer Sorge um das Wasser völlig unverstanden. Sie haben die Worte der ehemaligen israelischen Premierministerin Golda Meir nicht vergessen, die von einer "Allianz mit der Türkei und Äthiopien" träumte, die es den Israelis ermöglichen würde, die zwei wichtigsten Ströme - Nil und Euphrat - "in unsere Hände zu bekommen".

Mit der Türkei hat Israel diese Allianz schon erreicht, und mit Äthiopien, dem Ursprungsland des "Blauen Nils", pflegt es seit Jahren gute Beziehungen.

Die Keime künftiger Konflikte liegen in ungelösten rechtlichen Fragen. "Wir wissen, dass Wassernutzungsrechte dem Gesetz des Dschungels unterliegen und dass wir der Gnade von Militärmächten ausgeliefert sind", stellte jüngst der arabische Wasserexperte Abu El Shamat alarmiert fest.

Arabische Staaten werfen vor allem der Türkei eklatanten Bruch internationalen Rechts vor, indem sie den Besitz ihrer Wasserquellen als "nationales Recht" erachte. Die Verteilung des Euphratwassers wird durch zwei Verträge generell geregelt, in denen sich die Türkei verpflichtet, Syrien 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zu liefern, und Syrien dem Irak 58 Prozent dieser Menge zusichert. Seit Jahren behaupten Bagdad und Damaskus, dass Ankara sich nicht an seine Zusagen halte, und sie drängen die Türken - vergeblich - nach einer Neuregelung der Wasserverteilung.

Entsalzungsanlagen statt Krieg

In Ankaras strategischem Denken spielt die "Wasserkarte" eine entscheidende Rolle. Mit Hilfe der "Waffe Wasser" - als Zuckerl oder als Drohmittel - wollen sich die Türken, unterstützt von den USA, eine dominierende Rolle im Mittleren Osten sichern. Mit Hilfe des Wassers lässt sich etwa der Nachbar Syrien im ungelösten Grenzdisput Iskenderum (das von Syrien beanspruchte Alexandretta) unter Druck setzen, oder durch eine enge Kooperation mit Israel (etwa auch durch geplante Wasserlieferungen) zu Konzessionen im Friedensprozess zwingen.

Ägypten, dessen Existenz vom Nil abhängt, Syrien, der Irak und andere Länder der Region lehnen jedoch die in internationalem Recht keineswegs verbriefte Vorstellung ab, dass einzelne Staaten souveräne Rechte auf die Quellen "internationaler Flüsse" für sich beanspruchen. Je alarmierender sich die Wassernot zuspitzt, desto explosiver wird sich dieses Rechtsproblem erweisen. Das Wasser der Region würde nicht reichen, warnte jüngst ein Experte, um den Flächenbrand zu löschen, den ein Krieg um diesen Lebensquell auslösen könnte.

Der amerikanische Wasserfachmann Franklin Fisher mahnt eindrucksvoll zur Vernunft: "Ein Kriegstag im Nahen Osten kostet die Beteiligten rund hundert Mill. Dollar. Eine Woche kostet so viel wie vier große Meerwasser-Entsalzungsanlagen, die einen Krieg unnötig machen würden."