Salzburger Nachrichten (A), 19.8.2000

Züchtigung von Frauen auf Prüfstand

Koran sagt ja, Gesetz nein: Türkische Behörden wollen Religion und Justiz in Einklang bringen

SIBEL UTKU

ANKARA (SN, AFP). Darf der gläubige Moslem von heute seine Frau schlagen? Der Koran sagt ja, das türkische republikanische Gesetzbuch nein. Zweifel dieser Art sollen in der Türkei nun endgültig ausgeräumt werden. Im Auftrag des Staatlichen Religionsamtes arbeiten sich derzeit Experten durch ganze Bände über Leben und Lehre des Propheten Mohammed und durch Interpretationen islamischer Schriften.

"Wir wollen Auslegungen und Auffassungen aufspüren, die noch auf altmodischen Sitten und Bräuchen gründen, und wir wollen Interpretationen entwickeln, die zu einer Lösung aktueller Probleme beitragen," erläutert der Leiter der staatlichen Religionsbehörde, Mehmet Nuri Yilmaz.

Während die türkische Presse die Initiative wohlwollend aufnahm, verurteilten radikalislamische Blätter sie in Bausch und Bogen als "Unfug". Den Koran reformieren zu wollen, sei reine Energieverschwendung. Schließlich sei die Heilige Schrift nicht interpretierbar. Yilmaz lässt sich dennoch nicht beirren: "Heutzutage hat eine Philosophie, die sich nicht auf Menschenrechte stützt, so gut wie keine Chance auf allgemeine Akzeptanz und Erfolg."

"Im Westen verbindet man den Islam mit Rückständigkeit, Gewalt, Folter und dem Ausschluss von Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben." Doch Unterdrückung sei gar nicht im Koran vorgesehen, sondern basiere schlichtweg auf einer Fehlinterpretation der prophetischen Schrift, wird Yilmaz nicht müde zu betonen.

Sakir Keceli, Autor islamwissenschaftlicher Bücher, gehört zu den Befürwortern der Kampagne. "Der Koran wird heute sowieso in keinem Land mehr Wort für Wort angewandt," sagt er. "Die Menschen müssen mit der Zeit gehen und mit dem Fortschritt in der Wissenschaft Schritt halten."

In der streng laizistisch ausgerichteten Türkei, in der 99 Prozent der Bevölkerung moslemisch sind, stehen Koran-Verse über Polygamie und das Recht der Männer auf Züchtigung ihrer Frauen in krassem Widerspruch zur Gesetzgebung und zu den modernen Werten.

"In vorislamischer Zeit wurden arabische Frauen zu Tode geprü-gelt. Insofern hat der Koran ihre Lage verbessert, weil er Schläge als äußerstes Mittel festsetzte, um die Einheit der Familie zu wahren," räumt Yilmaz ein. "Aber man kann solche Verse doch nicht ewig anwenden. Der Koran enthält beispielsweise auch Vorschriften zur Sklaverei, und die gibt es heute gar nicht mehr."