Neue Zürcher Zeitung, 17.08.2000

Erinnerungen an das Erdbeben in der Türkei

Forderung nach Eigenverantwortung ein Jahr danach

Ein Jahr nach dem grossen Erdbeben in der Türkei sind die Erinnerungen an die Katastrophe wach. Die bei der Hilfeleistung aktiven Bürgerinitiativen fordern mehr Eigenverantwortung der Bevölkerung und wenden sich damit indirekt gegen den türkischen Zentralstaat.

jkt. Istanbul, 16. August

«Schlafe nicht, Türkei!», steht täglich in grossen Lettern auf der Frontseite der Istanbuler Tageszeitung «Radikal». Die Zeitung hat sich dem Aufruf zahlreicher Bürgerinitiativen angeschlossen, die dazu aufgefordert hatten, die Nacht vom 16. auf den 17. August, in der sich das verheerende Erdbeben von Izmit/Gölcük jährt, nicht zu schlafen, sondern sich an verschiedenen Gedenkveranstaltungen zu beteiligen. Wenn es nur darum ginge, das Datum in Erinnerung zu rufen, wäre für die türkische Bevölkerung kein Aufruf nötig. So melden etwa die Standesämter, dass auf dieses Datum hin niemand die Trauung angemeldet hat. Es zirkulieren Befürchtungen, dass exakt ein Jahr später die Erde erneut beben werde. Die Erinnerungen an die schreckliche Nacht sind wach.

Verbreitete Traumata

Eine 21-jährige Bewohnerin aus dem Istanbuler Stadtteil Avcilar erzählt, als ob sich der Schrecken gestern ereignet hätte. Sie erinnert sich, wie das Haus über ihr zusammenstürzte und ihre Mutter, die direkt neben ihr lag, kurz darauf starb. Ein Jahr nach dem Erdbeben und nach 13 Operationen übt die junge Frau wieder das Gehen. Auf den ersten Blick erscheint sie als eine attraktive und vor Leben sprühende Person. Doch wenn sie lacht, ziehen sich ihre Mundwinkel und Augenlider nach der Seite, und man weiss nicht, ob sie nicht gleich anfängt zu weinen.

Die Schweizer Psychologin Caroline Schlar schätzt, dass zwischen 3 und 4 Millionen Personen noch unter den traumatischen Erlebnissen des Erdbebens zu leiden haben. Das sind bei weitem nicht nur solche, die selbst unter den Trümmern lagen oder Verwandte verloren haben. Der 39-jährige Bauarbeiter Ali Yaman war in der Nacht des Bebens keineswegs nur ein zur Passivität verdammtes Opfer. Sein Haus habe nur einen mittelgrossen Schaden gehabt, berichtet er. Er sei mit seiner Familie hinausgerannt, aber neben ihnen seien die Häuser zusammengebrochen. Sie hätten sofort begonnen zu helfen, ohne Werkzeuge und ohne Kenntnisse. Nachdem in der Nachbarschaft Hilfskräfte eintrafen, sei er mit Freunden an andere Orte geeilt, wo noch Hilfe gebraucht wurde. Neun Menschen konnten sie lebend und zwei tot bergen. Obwohl er in der Not helfen konnte, ändert sich nichts daran, dass auch Yaman unter den Folgen des Erdbebens leidet. Lange verfolgte ihn die Zwangsvorstellung, dass der Boden plötzlich unter seinen Füssen einbricht.

Es sind die spontanen Hilfsaktionen wie diejenige Yamans und seiner Freunde, die viele Türken ihrer Regierung vorhalten. Auch heute noch wird den Behörden ihr Versagen in der Nacht der Katastrophe und an den Tagen danach vorgeworfen. Während Tausende unter den Trümmern lagen, debattierte man in Ankara lange darüber, ob der Ausnahmezustand auszurufen sei oder Kriegsrecht anzuwenden wäre oder doch nur der Katastrophenfall zu erklären sei. Der Ministerpräsident, offenbar ohne Satellitentelefon oder Funkgerät auf Inspektionsreise im Katastrophengebiet, musste ein Fernsehinterview benutzen, um seinem Stab in Ankara Anweisungen zu geben. Dort lagerten, wie es sich für einen Zentralstaat gehört, die im Krisenfall für die Gouverneure bestimmten Satellitentelefone, so dass die örtlichen Krisenstäbe, nach dem kompletten Ausfall der erdgebundenen Verbindungen, ohne Telefonverbindung am Tisch sassen. Das Ganze in einem Land, das immer wieder von schweren Erdbeben heimgesucht wird, von dem man also annehmen könnte, dass der Staat vorbereitet ist.

Doch abgesehen von den vielen Pannen stellt sich die Frage, ob sich nicht auch in wohlorganisierten Staaten in einem derartigen Katastrophenfall Fehlleistungen ereignet hätten. Im Istanbuler Stadtviertel Avcilar etwa befindet sich die Brandwache unmittelbar neben einer Fabrik, die beim Beben in Brand geraten war. Doch alle Feuerwehrleute rannten in Panik nach Hause, um ihren Familien zu helfen. Es gibt Fälle, da scheitert jeder Versuch einer Organisation von oben, da helfen nur noch das Verantwortungsbewusstsein und die Eigeninitiative der Betroffenen. Doch gerade damit tut sich der türkische Staat schwer. Es herrscht ein chronisches Misstrauen gegenüber allem, das nicht staatlich verordnet ist und bis ins Letzte kontrolliert werden kann. Daher meinen die Zeitung «Radikal» und die vielen privaten Initiativen, die hinter dem Aufruf «Schlafe nicht, Türkei!» stehen, ihren Aufruf durchaus doppeldeutig auch als Weckruf für die von staatlichem Misstrauen gegängelte Bürgergesellschaft.

Verantwortungslose Bauunternehmer

Ali Yaman begrüsst die zahlreichen Aktivitäten der verschiedensten Bürgerinitiativen, die auf das Datum des 17. Augusts hin wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten sind. Obwohl Avcilar als das am meisten gefährdete Viertel in Istanbul gilt, hat er seine Angst überwunden und ist dorthin zurückgekehrt. Viele Bewohner seien weggezogen, erzählt er, doch das sei keine Lösung. Denn der Ort bleibe ja nicht leer, es zögen einfach Ärmere hierher. Er habe den Grund, auf dem er wohne, untersucht und bleibe nun hier, um den Leuten zu helfen. Zusammen mit anderen Freiwilligen organisiert er Veranstaltungen mit Experten zu Aspekten der Erdbebengefahr. Er hat sich auch selbst weitergebildet, um Ratschläge zur Untersuchung der Bodenfestigkeit geben zu können. Aber für Yaman sind nicht nur technische Aspekte wichtig. Er fordert ein Bewusstsein für Gefahr und Verantwortung. Denn nur auf diese Weise lasse sich das Übel illegaler oder mangelhafter Neubauten bekämpfen. Zum Beweis, dass in dieser Beziehung noch viel zu tun ist, führt er uns zu einem Haus, das vor fünf Tagen auf die Seite gerutscht ist - ganz ohne Erdbeben. Der Bauherr hatte lediglich gemeint, er könne den teuren Bauingenieur einsparen.