web.de, 15.08.2000 13:22

Für viele ist ein Jahr danach das Elend noch nicht vorbei

Zum Jahrestag des verheerenden Erdbebens in der Türkei leben noch immer mindestens 26.000 Menschen in Zelten - «Der Staat hat uns vergessen» - Wirtschaft erholt sich langsam

Von AP-Korrespondent Louis Meixler Izmit (AP)

Ayse Karatas ist verzweifelt. «Wir haben nichts, und der Staat kümmert sich nicht um uns», sagt die Frau eines pensionierten Bäckers verbittert. Sie ist eine von zehntausenden Türken, die ein Jahr nach dem schwersten Erdbeben in der jüngeren Geschichte ihres Landes immer noch in Zelten hausen müssen. Für sie, die am 17. August 1999 ihre dreijährige Enkeltochter nahm und mit ihr aus dem Fenster ihrer Wohnung sprang, ist wie für viele andere auch heute das Elend noch nicht vorbei. Die Bitterkeit, die aus den Worten Ayse Karatas' spricht, war nach der Katastrophe weit verbreitet, als Regierung und Behörden sich als weitgehend unfähig erwiesen, mit dem Chaos fertig zu werden.

Damals verloren bei dem Beben der Stärke 7,4 im industriellen Ballungsraum im Nordwesten Anatoliens über 17.000 Menschen ihr Leben, nach inoffiziellen Angaben waren es sogar bis zu 40.000. Über 100.000 Häuser wurden zerstört. Der volkswirtschaftliche Schaden beträgt nach Angaben des Zentrums für Türkeistudien 18 Milliarden Mark. Sechs Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung waren von dem Beben betroffen.

So wie Ayse Karatas leben ein Jahr nach dem Unglück noch mindestens 26.000 Menschen in Zelten, davon allein 20.000 in Izmit, der größten von der Katastrophe betroffenen Stadt rund 100 Kilometer östlich von Istanbul. Weitere 150.000 Menschen hausen in unklimatisierten Wohncontainern, in denen es im Sommer drückend heiß und im Winter bitter kalt wird. Viele sind zu arm, um sich aus eigener Kraft eine neue Wohnung zu suchen, zumal die Zerstörungen durch das Beben die Immobilienpreise und Mieten in die Höhe getrieben hat. Ayse und ihr Mann müssen von einer Rente von 100 Millionen Lira (330 Mark) im Monat leben, nicht viel bei einer Infationsrate von fast 60 Prozent. Für eine kleine Wohnung würde bei den heutigen Mieten das gesamte Monatseinkommen der Familie draufgehen.

Doch die ursprüngliche Empörung über die zu langsame und ineffektive Reaktion der Behörden auf das Erdbeben ist in dem zurückliegenden Jahr in der türkischen Öffentlichkeit geschwunden, und die Überlebenden sind meist vergessen. Die bessere Reaktion auf ein zweites Erdbeben im November, bei dem nochmals rund 1.000 Menschen getötet wurden, hat die Reputation der Regierung wieder aufpoliert. Die Regierung hat Vorkehrungen für den Fall neuer Beben getroffen, die nach Expertenmeinung in dem gefährdeten Gebiet jederzeit geschehen können. So wurde ein Erdbebenzentrum auf freiem Feld errichtet, weitab großer Häuser. In Karatas' Heimatstadt Izmit wurden spezielle Einsatzteams gebildet, die innerhalb von vier Stunden nach einer Katastrophe vor Ort sein können. Verwaltungsbeamte wurden mit Walkie-Talkies ausgerüstet, so dass sie auch bei einem Zusammenbruch des Telefonnetzes erreichbar sind.

Auch wirtschaftlich geht es wieder bergauf. Die Industrieproduktion, die unmittelbar nach dem Beben auf 30 Prozent der Kapazität fiel, ist inzwischen wieder auf 75 Prozent gestiegen. Die Inflation fiel von 65 Prozent auf 58,6 Prozent im Juni. Die Eisenbahnfabrik TUVASAS bei Adapazari östlich von Izmit wurde von den Arbeitern teilweise in kostenloser Wochenendarbeit wieder aufgebaut. Zwar haben viele Wände Löcher und einige Werkshallen kein Dach, aber die Produktion ist wieder angelaufen. Die staatliche Fabrik ist mit 1.200 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in Adapazari.