Stuttgarter Zeitung, 15.8.2000

Türkische Staatsanwälte nehmen Islamisten ins Visier

Istanbul - Gegen den einflussreichsten islamischen Führer der Türkei, Fethullah Gülen hat die Staatsanwaltschaft in Ankara Haftbefehl erlassen. Vorwurf: Gülen habe eine Vereinigung mit dem Ziel gegründet, in der Türkei einen Gottesstaat zu errichten.

VON UTKU PAZARKAYA

Die Anhänger des 58-Jährigen unterhalten auch in Deutschland "Bildungszentren''. Im vergangenen Jahr waren Videoaufnahmen aufgetaucht, in denen Gülen offen dazu aufrief, den Staat zu unterwandern. "Besetzt die Schaltstellen im Staat und wartet auf mein Zeichen.'' Vor allem die Justiz und die Verwaltung waren Ziel der Bewegung. "Unsere Freunde dort sind die Garantie für die Zukunft des Islam. Landräte sollen zu Provinzgouverneuren, einfache Richter zu einflussreichen Persönlichkeiten werden'', forderte Gülen und warnte gleichzeitig vor übereilten Aktionen: "Wenn wir zu früh losschlagen, wird man uns zermalmen.'' Als Ausschnitte seiner Reden auf privaten türkischen Fernsehkanälen ausgestrahlt wurden, setzte sich Gülen in die USA ab, wo seine Bewegung ebenfalls aktiv ist.

Zentren der Bruderschaft sind die über tausend Schulen und Lernhilfen, die ein weltumspannendes Netzwerk bilden. In Deutschland schätzt man ihre Zahl auf rund 70. "Das Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wie stark Gülen in Deutschland ist und welche Inhalte den Kindern und Jugendlichen jenseits der Hausaufgabenhilfe vermittelt werden'', sagt der Kölner Experte Ahmet Senyurt. Gülen strebe die "Islamisierung der Gesellschaft durch Bildungseinrichtungen'' an. Inzwischen hätten sich seine Leute auch im türkischen Kultusministerium Einfluss gesichert. Besonders aktiv ist die Bewegung neben der Türkei in den asiatischen GUS-Staaten. In Deutschland schätzt Senyurt die Zahl ihrer Anhänger auf mehrere tausend. Darunter sind viele Akademiker.

Lange Zeit wurde Gülen von Politikern hofiert. Er galt als Vertreter eines nationalkonservativen, demokratischen Islam. Sein wachsender Einfluss auf die Medien und Parteien führte aber nicht zuletzt bei den Militärs zu Unbehagen. Bereits vor dreieinhalb Jahren hatten sie im Nationalen Sicherheitsrat des Landes den Fundamentalismus zum Staatsfeind Nummer eins noch vor der PKK erklärt und Maßnahmen zur Eindämmung gefordert. Seitdem versucht die Politik verstärkt, dem politischen Islam Herr zu werden. Dazu gehört auch das Kopftuchverbot an Universitäten, gegen das Studentinnen immer wieder auf die Straße gehen.