Frankfurter Rundschau, 15.8.2000

Khatami vor seiner schwierigsten Bewährungsprobe

Mit seinem Rücktritt könnte Irans Präsident die Integrität der Reformbewegung bewahren

Von Mohssen Massarat

Die politische Lage in der Islamischen Republik Iran hat mit dem Eingriff des geistlichen Führers Ayatollah Ali Khamenei in die Arbeit des Parlaments wieder einmal ein kritisches Stadium erreicht. Khamenei hatte die Debatte über die Änderung des Pressegesetzes kurzerhand von der Tagesordnung des Parlaments absetzen lassen und damit den Bogen im Verhältnis zwischen den Reformkräften und den theokratischen Machtinhabern überspannt, mit unkalkulierbaren Risiken für beide Seiten.

Das noch gültige restriktive Pressegesetz war kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode, sozusagen als Geschenk der antireform-dominierten Parlamentsmehrheit an den theokratischen Staatsapparat, verabschiedet worden, um die einflussreichen Medien der Reformbewegung auszuschalten. Auf dieser Grundlage wurden 22 auflagenstarke Tageszeitungen und Wochenmagazine der Reformbewegung mit fadenscheinigen Begründungen verboten. Die letzte Reformzeitung Bahar (Frühling) fiel der Willkür der konservativen Justiz am 8. August, also zwei Tage nach dem "Putsch von oben", zum Opfer. In der Islamischen Republik Iran haben Parteien gegenwärtig keine Chance, den Volkswillen zu repräsentieren. Dies wird sich absehbar auch nicht ändern.

Für die eigene politische Identität der Menschen in der iranischen Gesellschaft haben politische Programmatik, inhaltliche Aussagen und Ziele nach wie vor eine deutlich geringere Bedeutung als die Glaubwürdigkeit von Führungspersönlichkeiten.

Die Anhänger von Präsident Mohammad Khatami sind durchaus nicht eingefleischte Demokraten, sie treten nicht aus tiefer Überzeugung zur Demokratie für Khatami ein, sondern umgekehrt wegen ihres Vertrauens in Khatami für die Demokratie. Politische Auseinandersetzung und Meinungsbildung finden nicht durch Parteien, sondern über die Medien statt, und so ist auch die entscheidende Rolle der reformorientierten Medien bei der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse, der Veränderung des Bewusstseins und der Verankerung von demokratischen Spielregeln einzuordnen.

Ayatollah Khamenei als Repräsentant der theokratischen Machtelite und der politischen Minderheit in der Islamischen Republik glaubt, diesen Prozess repressiv aufhalten zu können. Er machte sogar von den verfassungsmäßigen Möglichkeiten der Zurückweisung eines zu erwartenden neuen Pressegesetzes etwa durch den Wächterrat keinen Gebrauch. Er suchte stattdessen den Weg der offenen Konfrontation gegen die Reformbewegung und entmündigte demonstrativ das mehrheitlich von den Reformern dominierte Parlament.

Damit aber steht Staatspräsident Khatami vor der schwierigsten Bewährungsprobe seit seinem überwältigenden Wahlsieg im Mai 1997. Khatami hat seitdem durch eisernes Schweigen und sein freundliches Lächeln beharrlich versucht, durch eine Politik des Zwei-Schritte-vor, Einen-Schritt-zurück den Reformprozess behutsam voranzubringen. Er zog dabei des öfteren den Zorn seiner ungeduldigen Anhänger und laizistischen Kritiker mit ihren maximalistischen Forderungen auf sich. Khatamis zähneknirschende Zurückhaltung anlässlich der organisierten Gewalteskalation durch die Schlägertrupps der Theokratie wurde als persönliche Schwäche und Unfähigkeit ausgelegt, dies jedoch völlig zu Unrecht. Jedesmal ging bisher die Reformbewegung dank Khatamis Behutsamkeit gestärkt aus den provozierten Konflikten hervor. Für die Repräsentanten der Theokratie steht viel auf dem Spiel: Macht, Vermögen und Posten. Durch substanzielle Reformen des politischen Systems müssten sie die von ihnen dank der Islamischen Revolution usurpierte Macht in der Armee und den militärischen Parallelstrukturen, in der Justiz, in den staatlichen Medien und der staatlich kontrollierten Wirtschaft wieder abgeben. Die Angst, ihr durch die Kontrolle der Öleinnahmen, des Außen- und Binnenhandels und der diversen ökonomisch weitverzweigten Stiftungen an der Zivilgesellschaft vorbei angehäuftes Vermögen zu verlieren, sitzt ihnen tief in den Knochen. Der Positionsverlust für rund eine Million treuer Kader, die das soziale Fundament der Theokratie darstellen, ist von existentieller Bedeutung.

Hinzu kommt die Angst, für kriminelle Machenschaften, Korruptionsaffären, Mordserien und möglicherweise auch wegen Landesverrates im Zusammenhang mit der Fortsetzung des Krieges gegen Irak belangt zu werden. Deshalb sind die verantwortlichen Politiker und Nutznießer des theokratisch-klientelistischen Systems gewillt, den Demokratisierungsprozess mit allen erdenklichen Mitteln zu stoppen. Der Kern ihrer Politik besteht darin, einen Zustand des Chaos zu provozieren, die Aufbruchstimmung in der Zivilgesellschaft für Reformen zu brechen, den Präsidenten als unfähig zu desavouieren, die unorganisierten Anhänger der Reformbewegung zu verunsichern und schließlich zu neutralisieren.

Zu diesem Zweck organisierte das System zunächst im Juli 1999 einen Putsch von unten. Die Studenten der Teheraner Universitäten wurden von Schlägerbanden überfallen und krankenhausreif geschlagen und ihre Wohnungen verwüstet. Diese Rechnung ging aber nicht auf. Die Reformbewegung tappte nicht in die gestellte Falle, die massive Verletzung der Menschenwürde wurde ganz im Sinne von Khatamis behutsamer Politik in Kauf genommen, anstatt sie mit der gleichen Münze heimzuzahlen. Unter der gegebenen Machtungleichheit erwies sich Khatamis Taktik als die politisch weitsichtigere. Seine durchaus mit Mandelas Versöhnungsstrategie vergleichbare Politik, die eigene machtpolitische Schwäche in moralische Stärke und eine darauf beruhende politische Macht umzumünzen, ist ein unschätzbarer Quell der politischen Glaubwürdigkeit in den Augen der Bevölkerung, aus der auch die Reformbewegung ihre Kraft schöpft. Die Reformbewegung eroberte so das Parlament und damit eine politische Institution an der Schnittstelle zwischen der Zivilgesellschaft und den theokratisch beherrschten Staatsorganen.

Die Antwort der Theokratie ist diesmal der Putsch von oben, um entweder den erwünschten Chaos-Effekt zu provozieren oder aber Khatamis Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Damit steht Khatami vor der Wahl, entweder hinter den Kulissen erneut einen Kompromiss durchzusetzen, ohne die Ziele der Reformbewegung zu verraten oder aber seinen Rücktritt zu erklären. Die Hinnahme der Entmündigung einer Institution, die zum Herzstück von Khatamis reformierter Islamischer Republik aufgewertet werden sollte, wäre der Anfang vom Ende seiner politischen und moralischen Glaubwürdigkeit.

Nur durch einen politisch begründeten Rücktritt wäre es möglich, die neue Falle der Theokratie unwirksam zu machen. Ein geschickt platzierter Rücktritt des Präsidenten würde durchaus nicht das Ende der Reformbewegung bedeuten. Würde er mit seinem Rücktritt gleichzeitig die Bevölkerung zur Geduld und Besonnenheit aufrufen, sie ermutigen, nicht zu resignieren und die in den letzten drei Jahren gewonnenen Erfahrungen der Demokratisierung an der Basis fortzuentwickeln, die Provokationen zur gewaltsamen Auseinandersetzung ins Leere laufen zu lassen, so würde er die Legitimationskrise der theokratischen Machtelite drastisch verschärfen. Und genau dies ist die wirksamste "Waffe" gegen eine religiöse Elite, die bis an die Zähne bewaffnet ist und alle staatlichen Machtinstrumente dominiert. Es ist absehbar, dass die soziale Basis des Systems (gegenwärtig rund 30 Prozent der Bevölkerung) auf einen harten Kern zusammenschrumpft. Dem theokratischen Staat käme so buchstäblich das Volk abhanden.

Der Autor dieses Beitrags ist iranischer Herkunft und Professor am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück