junge Welt, 12.08.2000

Ein Friede - zerbrechlich wie Porzellan

10. August 1920: Diktat von Sèvres über die Türkei.

Von Werner Müller

Ins Lexikon geriet Sèvres, die Stadt zwischen Paris und Versailles, als Sitz einer 1756 gegründeten Manufaktur, deren Porzellan einen über Frankreich hinaus reichenden Ruf genießt. Zudem beherbergt der Ort das Internationale Büro der Gewichte und Maße, das zuständig für die Einhaltung der weltweit gültigen Normen auf jenem Gebiet ist.

In die internationale Politik freilich geriet das Gemeinwesen durch den dort abgeschlossenen Friedensvertrag vom 10. August 1920 zwischen den Siegern des Ersten Weltkrieges und der Türkei, die als Bündnispartner des Deutschen Reiches gekämpft hatte. Es war der letzte in der Kette der sogenannten Pariser Vorortverträge, deren Auftakt der Versailler Vertrag mit Deutschland 1919 gebildet hatte. Diesem waren im gleichen Jahr die entsprechenden Abkommen mit Österreich in St. Germain und mit Bulgarien in Neuilly gefolgt. Der Vertrag mit Ungarn kam erst im Juni 1920 in Trianon zustande, da nach dem Sturz der ungarischen Räterepublik von 1919 zunächst einmal eine entsprechend honorige »Ordnungsregierung« als Partner etabliert werden mußte.

Ähnlich hatten es sich die Siegermächte der Entente auch im Falle der Türkei gedacht. Doch hier verliefen die Dinge gänzlich anders. Die Paragraphen des Vertrages von Sèvres gerieten ins Kreuzfeuer zweier konträrer Prozesse: Da waren einerseits die imperialistischen Gegensätze der Ententemächte und andererseits die innerpolitische Entwicklung in den anatolischen Kerngebieten, die sich als national-revolutionäre Bewegung immer mehr verselbständigte.

Den Grundtenor der »Friedensregelung« hatte einen Monat vor dem Vertragsabschluß der damals ansonsten als »gemäßigt« apostrophierte britische Ministerpräsident Lloyd George vorgegeben. Von der Tribüne des Unterhauses hatte er als Sachwalter der Interessen der englischen Großbourgeoisie verkündet, daß »dieTürkei vollständig zerschlagen werden müsse und wir keinerlei Grund haben, dies zu beklagen«.

Dementsprechend sah auch das Diktat von Sèvres aus. »Der Vertrag bedeutete das Ende einer unabhängigen Türkei, wenn auch die Fiktion eines souveränen Staates aufrechterhalten blieb«, stellte Johannes Glasneck in seinem Buch »Kemal Atatürk und die moderne Türkei« (Berlin 1971) fest. Die Türkei mußte die Verfügung über die Meerengen, also über Dardanellen und Bosporus, an eine Meerengenkommission übergeben, die nun die Kontrolle dieses Wasserweges zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer übernahm. Der Sultan und seine Regierung saßen in ihrer Hauptstadt Istanbul als Geiseln für die Erfüllung der Friedensbestimmungen seitens der Türkei. Die einstigen arabischen Landesteile des Osmanischen Reiches waren abgetrennt worden und unter der Parole des Selbstbestimmungsrechts unter Mandatsherrschaft des Völkerbundes gestellt worden. Das galt sowohl für Palästina wie auch für Syrien, den Libanon und den Irak.

Aber selbst die anatolischen Kerngebiete mit unstreitig mehrheitlich türkischer Bevölkerung wurden eingeschränkt. Das Gebiet um Izmir (Smyrna) kam unter griechische Herrschaft, und an der Ostgrenze wurden ganze Provinzen Armenien zugeschlagen, das sich damals der Unterstützung der Entente erfreute. Überdies realisierten die Ententemächte in Anatolien jene während des Krieges abgeschlossenen Geheimverträge, die den Franzosen in Kilikien und den Italienern im Gebiet um Konya und Antalya »Einflußzonen« zugesichert hatten.

Dazu kam die völlige militärische Entmachtung des Landes. Dem Sultan verblieben eine Leibwache von 700 Mann und Gendarmerie in Höhe von 35 000 Angehörigen. Die Flotte war auf sechs Torpedoboote und einige Kutter reduziert. Nicht minder entwürdigend waren die ökonomischen Bestimmungen. Das Land verlor die Zollhoheit. Eine französisch-englisch-italienische Finanzkommission sollte das Budget kontrollieren, Anleihen ebenso genehmigen wie die Vergabe von Konzessionen. Alle Einkünfte des Staates waren diesem Gremium zur Verfügung zu stellen. Es war die Wiederkehr der vor 1914 unter dem Namen »Kapitulationen« bekannten verbrieften Vorrechte der westlichen Ausländer.

Kein Wunder also, wenn in der alten Sultansmetropole die Gazetten die Nachricht vom Diktat von Sèvres im Trauerrand veröffentlichten und wehklagten: »Das ist das Ende eines Reiches, das lange Zeit mit Glanz über drei Kontinente geherrscht hatte!«

Kein Wunder aber auch, daß sich im Lande Kräfte regten, die den Vertragsabschluß von Sèvres für null und nichtig erklärten. Am 19. August 1920 klagten sie die Vertreter des Sultans wegen ihrer Zustimmung zum Vertrag des Hochverrats an. Diese nationalen Kräfte hatten sich, außerhalb der von den Ententemächten beherrschten Gebiete im anatolischen Hochland, in Angora (Ankar) in der Großen Nationalversammlung ein legitimes Organ geschaffen, das den Kampf gegen die imperialistischen Unterdrücker aufnahm und dessen Anhänger bald unter dem Namen »Kemalisten« bekannt wurden.

Die »Rote Fahne« hatte es auf den Punkt gebracht, als sie zum Vertragsabschluß von Sèvres am 13. August kommentierend schrieb: »Sehr viel mehr als von der Unterzeichnung eines solchen >Fetzens Papier< unter den Drohungen der britischen Schiffsgeschütze im Goldenen Horn wird die Entwicklung in Kleinasien davon abhängen, ob sich die gegen den Ententeimperialismus kämpfenden Völker des Orients - Türken, Araber, Perser - über alles sie national Trennende hinweg, wirksam zusammenschließen werden.«

Diese letztere Erwartung erfüllte sich zwar nicht, wohl aber gewann in der Folge die national-revolutionäre Bewegung der Kemalisten eine solche Durchschlagskraft, daß sie das Diktat von Sèvres wirklich in einen »Fetzen Papier« verwandelte. Dies wäre freilich ohne die Existenz der jungen Sowjetmacht im Rücken nicht möglich gewesen, mit der sich die Kemalisten 1921 in einem Freundschaftsvertrag verbündeten. W. I. Lenin hat seinerzeit die historische Leistung ihres aus der jungtürkischen Bewegung hervorgegangenen Führers, der ihnen den Namen gab, gegenüber einem sowjetischen Diplomaten folgendermaßen gewürdigt: »Selbstredend ist Mustafa Kemal Pascha kein Sozialist, aber augenscheinlich ein guter Organisator, ein talentierter Heerführer, der eine national-bürgerliche Revolution leitet, ein progressiv gestimmter Mensch, ein kluger Staatsmann. Er begriff die Bedeutung unserer sozialistischen Revolution und verhält sich positiv zu Sowjetrußland. Man sagt, daß ihm das Volk vertraut. Unter diesen Umständen bedeutet Hilfe für ihn Hilfe für das türkische Volk.«

Es ist das damalige Umfeld, an dem die Klauseln von Sèvres notwendig scheiterten. Aus heutiger Sicht auf jene Region ist es wohl nicht unangebracht, an die Klage von Goethes »Zauberlehrling« zu erinnern: »Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los.« Vieles von dem, was sich heutzutage in jenem Teil der Erde ereignet, hat in der Tat seine Wurzeln in unerledigten Hypotheken, die imperialistische Friedensverträge am Ende des Ersten Weltkrieges zurückgelassen haben.