Frankfurter Rundschau, 11.8.2000

DAS POLITISCHE BUCH
Ein neues Dorf mit Minarett Moslems in Deutschland

Von Gaby Mayr

Der Streit um Kopftuch und Minarett zeigt augenfällig, dass Christen, Juden und Religionslose in Deutschland längst nicht mehr unter sich sind. "Gastarbeiter" und Flüchtlinge haben aus ihrer Heimat eine Vielzahl religiöser Bekenntnisse mitgebracht; neben der großen Gruppe sunnitischer Moslems aus der Türkei sind weitere religiöse Gemeinschaften aus dem vorderen Orient hier heimisch geworden. Die Religionswissenschaftlerin Gerdien Jonker, die sich mit der Erforschung moslemischen Lebens in der deutschen Diaspora einen Namen gemacht hat, stellt in dem von ihr herausgegebenen Buch "Kern und Rand" einige Gruppen vor und beleuchtet das religiöse Leben von Sunniten, die in der Türkei die religiöse Mehrheit bilden und sich in Deutschland in einer Randposition wiederfinden.

Die Aleviten dagegen durften wegen ihrer Verfolgung in der Türkei erst seit kurzem offen auftreten. Moscheen bauen sie nicht. Ihre weltweit sechs Millionen Mitglieder verstehen sich als pazifistische, transnationale Gemeinschaft.

Das Autorenteam stellt Geschichte und Herkunft der hier kaum bekannten Religionsgemeinschaften und ihre religiöse Praxis unter den Bedingungen der Fremde vor. Einige Gruppen empfinden es als Chance, sich in Deutschland frei von Verfolgung zu entfalten. "Lasst uns hier ein neues Dorf gründen", wird ein türkischer Angehöriger der rum-orthodoxen Kirche aus Berlin zitiert. Angst vor dem Aufgehen in der deutschen Gesellschaft, vor allem durch Abkehr der jungen Leute, ist dagegen bei vielen Angehörigen der syrisch-orthodoxen Christen auszumachen.

Während die Angehörigen der kleinen Glaubensgemeinschaften bereits im vorderen Orient im Spannungsfeld zwischen Eigenständigkeit und Assimilation existiert haben, ist es für sunnitische Moslems eine neue Erfahrung, an den Rand gedrängt zu sein. Aspekte dieser Marginalisierung greift das Buch auf. Der Anteil von Wissenschaftlerinnen in dem Autorenteam ist hoch, und so bietet der Band viel Kenntnisreiches über moslemische Frauen. Junge Frauen werden vorgestellt, für die selbstbestimmtes Leben und Kopftuch zusammengehören. Auch wird die Berichterstattung zur Nichteinstellung der kopftuchtragenden Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg untersucht.

Es geht aber auch um junge Männer, die ihren moslemischen Glauben mit dem Ziel praktizieren, sich von der Familie zu emanzipieren, ohne mit ihr zu brechen. Die Partnerwahl der Kinder der zweiten Generation wird thematisiert und die Rolle der religiösen Gemeinden bei der Integration in die neue Heimat. Mit Sicherheit bietet "Kern und Rand" viele Informationen für den Abbau von "Kommunikationsdefiziten", die Jonker als Haupthindernis eines friedlichen Zusammenlebens der wachsenden Zahl religiöser Gruppen in Deutschland ausgemacht hat.

Gerdien Jonker (Hrsg.): Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei in Deutschland. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1999, 24,80 Mark.